Der dunkle Thron
der Stadt herstellen? Zu welchem Zweck?«
»Er wird mir zur Flucht verhelfen«, antwortete Nick.
»Ihr wollt ins Exil?«
»In gewisser Weise.« Es drängte ihn, Vater Anthonys Hilfe und Großzügigkeit mit Vertrauen zu belohnen und ihm die Wahrheit zu sagen, aber er wusste, dass durfte er nicht riskieren. Auch ein Priester war heutzutage nicht vor einem nächtlichen Besuch von Master Cromwell und seinen Schergen sicher, und was Anthony nicht wusste, konnte man ihm nicht abpressen. Es war mehr als Nicks eigenes Leben, das hier auf dem Spiel stand.
Bedrückt und von Zweifeln geplagt ging Anthony in seine Kirche, um die Frühmesse zu halten, doch als er zurückkam, hatte er seine Entscheidung getroffen und alle Bedenken hinter sich gelassen. Ideenreich und voller Tatendrang machte er sich daran, Nicks Bitten zu erfüllen. Weil die Verzweiflung des Ertrinkenden in der Nacht zuvor sein Mitgefühl erregt hatte. Weil die Entschlossenheit und Besonnenheit ihm imponierten, zu denen der junge Waringham mit dem Beginn des neuen Tages zurückgefunden hatte. Aber auch, erklärte er Nick unumwunden, weil er tiefe Abscheu vor der antiklerikalen Propaganda empfand, die Cromwell in den letzten Monaten geschürt hatte und die auch vor erschütternden Verleumdungen gegen den Heiligen Vater in Rom nicht haltmachte, wie Anthony voller Empörung erklärte.
Der Holzschnitt des schamlosen nackten Greises mit der Papstkrone, der Nick vor Jahren so schockiert hatte, war harmlos im Vergleich zu den Bildern und Schmähschriften, die Cromwell verbreiten ließ, um König Henrys Auflehnung gegen den Papst in den Augen der Engländer zu einem gerechten nationalen Anliegen zu machen. Und die Kampagne hatte Erfolg, wusste Nick. Das hatte ihn wütend gemacht, denn wenn die Engländer die Achtung vor dem Papst verloren, schwächte das auch Königin Catalinas und Prinzessin Marys Position, was ja Cromwells eigentliches Ziel war. Und doch war Nick nicht blind für die Tatsache, dass die Verkommenheit innerhalb der Kirche Cromwell und den Reformern in die Hände spielte. Diesen Gedanken verschwieg er Vater Anthony indes lieber, dessen uneingeschränkte Treue zur Heiligen Mutter Kirche ihn zu einem verlässlichen Verbündeten machte.
Lange nach Einbruch der Dunkelheit und dem Schließen der Stadttore klopfte es zweimal lang und viermal kurz an Vater Anthonys Tür.
»Das ist das vereinbarte Zeichen«, sagte der Priester. Seine Stimme klang rau, sein Blick war unruhig.
Nick trat mit mehr Entschlossenheit zur Tür, als er empfand, und öffnete. Ein junger Mann schlüpfte wortlos über die Schwelle, klein, drahtig und mager, so als habe er in seinem ganzen Leben nie genug zu essen bekommen, aber seine dunklen Kleider waren aus gutem Tuch und einigermaßen sauber. »Du bist Nicholas?«, fragte er ohne besonderes Interesse.
Der nickte wortlos. Vater Anthony hatte seine Bitte befolgt und ihm einfache Bauernkleider besorgt: Nick trug waidblaue Hosen mit einem Flicken auf dem linken Knie, einen grau verwaschenen Kittel, beide aus der ungewalkten Wolle, die die Bauersfrauen selber herstellten. Ein Paar hochbetagter, aber brauchbarer knöchelhoher Lederschuhe und ein kurzer Umhang mit Kapuze vervollständigten die Verkleidung und ließen den jungen Earl of Waringham wie irgendeinen Bauernknecht aussehen. Aber Nick fürchtete, sobald er den Mund aufmachte, würde man ihn durchschauen. Vater Anthony hatte einen nicht geringen Teil des Tages damit zugebracht, mit ihm zu üben, wie ein einfacher Tagelöhner zu sprechen, doch Nick fand noch nicht den Mut, seine neue Sprechweise auszuprobieren.
»Ich muss dir die Augen verbinden«, teilte der Besucher ihm mit und zog eine schmuddlige Stoffbinde unter dem Mantel hervor.
Nick sah unsicher zu Anthony.
Der nickte. »Es ist schon gut, mein Sohn. Sei unbesorgt, so war es ausgemacht.«
Nick atmete tief durch, schloss Vater Anthony kurz in die Arme und flüsterte: »Gott segne Euch für Eure Güte. Habt Dank.«
Der Pastor legte ihm einen Moment die Hand auf die Schulter. »Gebe Gott, dass wir uns wiedersehen.«
Der dunkel gekleidete Bote hatte den Abschied mit einer Mischung aus Ungeduld und Desinteresse verfolgt. »Können wir jetzt?«
Nick trat zu ihm und machte eine einladende Geste. Der Mann verband ihm die Augen mit der blickdichten Binde, fest genug, dass Nick nicht einmal mehr einen Streifen Licht sehen konnte, aber nicht grausam. Dann zog er ihm die Kapuze tief ins Gesicht, nahm ihn beim Ellbogen und
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