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Der dunkle Thron

Der dunkle Thron

Titel: Der dunkle Thron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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Stirn ein paar Herzschläge eher erreichte als die Nase, was seiner Stiefmutter jedes Mal das Aussehen eines grotesk geschminkten Gauklers verlieh. »Du schuldest mir in der Tat Rechenschaft, denn ich bin die Frau deines Vaters, und ganz gewiss schuldest du mir Respekt. Überleg dir lieber gut, ob du ihn mir verweigern willst.«
    Ihre Drohungen hatten jegliche Macht über ihn verloren, stellte er fest. »War es das, was Ihr auf dem Herzen hattet?«
    »Nein. Ich wollte mit dir über deinen Bruder sprechen.«
    »Ray? Was ist mit ihm?«
    »Er ist sechs Jahre alt und braucht dringend einen Tutor.« Nick ahnte Fürchterliches, und er täuschte sich nicht. »Wie du sicher weißt, sind unsere finanziellen Mittel begrenzt, und dein Vater lehnt die Einstellung eines neuen Hauskaplans ab. Aber jetzt, da du heimgekehrt bist – und das mit so viel Wissen, nicht wahr –, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass du den Unterricht deines Bruders übernehmen solltest.«
    Nick war alles andere als begeistert. Der Studierstube gerade entronnen, sollte er gleich in die nächste verbannt werden. Und er wusste genau, sie hatte sich das überlegt, um ihm Verdruss zu bereiten, denn sie selbst oder Brechnuss hätten Ray genauso gut das Lesen und Schreiben lehren können. Doch er sagte lediglich: »Einverstanden.«
    Sie verzog für einen Lidschlag die Mundwinkel nach oben. »Oh, dein Einverständnis ist nicht erforderlich. Es sollte keine Bitte sein, verstehst du.«
    »Vollkommen. Und meint Ihr, jetzt, da wir das wieder einmal klargestellt haben, kann ich gehen und mich umziehen?«
    »Ich würde sagen, je eher, desto besser.«
    Es lief darauf hinaus, dass er sich Kleider von seinem Vater borgen musste, und Brechnuss und Sumpfhexe wurden es nicht müde, sich darüber zu amüsieren, wie urkomisch er in dem zu weiten Wams mit den viel zu langen Ärmeln aussah. Gar nicht mehr amüsiert war seine Stiefschwester indessen, als Lord Waringham sie genau wie Laura bat, den Mägden zu helfen, eine neue Garderobe für Nick zu schneidern.
    »Ich werde alles, was du für mich nähst, mit besonderer Sorgfalt behandeln, Schwester«, beteuerte Nick ihr scheinheilig und weidete sich insgeheim an ihrer Miene. Es war doch wirklich erfrischend, wenn zur Abwechslung einmal sie am Tisch saß und, statt zu essen, an ihrem Zorn würgen musste.
    »Ich kann nur hoffen, was ich für dich nähe, wird nicht zwicken oder dir gar die Kehle zuschnüren«, gab sie mit einem trügerischen Lächeln zurück. »Denn ich fürchte, ich bin keine sehr geschickte Näherin. Kein üblicher Zeitvertreib für eine Dame, verstehst du.«
    Er nickte. »Ich weiß es zu schätzen, dass du dich für mich erniedrigst.«
    »Nicholas, das reicht«, sagte Lord Waringham und bedachte ihn mit einem Kopfschütteln.
    Nick fiel auf, wie erschöpft sein Vater an diesem Abend wirkte. Das Gesicht eigentümlich fahl, die Kerben um Mund und Nase tiefer als gewöhnlich, und ein ungewohnter Bartschatten bedeckte Kinn und Wangen. Zum ersten Mal im Leben schämte Nick sich seiner ewigen Streiterei mit seiner Stiefschwester, aber nicht genug, um sich zu entschuldigen. In dem unangenehmen, spannungsgeladenen Schweigen, das so typisch für diese Tafel war, beendeten sie ihr Mahl.
    Am nächsten Tag kehrte endlich der Sommer zurück, und die Menschen von Waringham traten aus den Häusern und sahen blinzelnd zum strahlend blauen Himmel auf. Fast war es, als hätten sie vergessen, was Sonnenschein war.
    Die Verlockung des herrlichen Wetters erwies sich als zu übermächtig. Nick schlich sich wieder vor dem Frühstück aus dem Haus, ehe seine Stiefmutter ihn mit seinem kleinen Bruder in irgendein dämmriges Gemach verbannen konnte, und arbeitete wie tags zuvor im Gestüt mit. Und als er am frühen Nachmittag zurückkam, ging er in den Rosengarten, der zu Füßen des alten Bergfrieds lag, um zu schauen, ob auch nur eine einzige Knospe die wochenlange Sintflut überdauert hatte.
    Es war seine Vielfalt, die den Rosengarten gerettet hatte, stellte er fest. Die Blüten der hochgezüchteten Sträucher und Stämme waren zum größten Teil schon im Knospenstadium verfault und abgefallen, doch die schlichteren Heckenrosen blühten unverdrossen. Langsam ging Nick daran entlang, und seine Schritte auf dem grasbewachsenen Pfad verursachten keinen Laut. Eine wunderbar friedliche, träge Nachmittagsstille lag über dem Garten, und so fuhr Nick erschrocken zusammen, als er hinter einem der ausladenden Sträucher plötzlich seinen

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