Der Dunkle Turm 3 - Tot
Ladung abdrücken‹. Es herrschte allgemeine Übereinstimmung, daß die Schüler von Piper zu perfekt waren, auf ihrem geschmackvoll leisen Weg durchs Leben Abfallprodukte der Verdauung zu erzeugen. Ab und zu bat jemand um die Erlaubnis, einmal ›austreten‹ zu dürfen, und das war alles.
Ms. Avery seufzte. »Muß es sein, John?«
»Ja, Ma’am.«
»Na gut. Aber komm so schnell wie möglich zurück.«
»Ja, Ms. Avery.«
Er klappte den Ordner zu, als er aufstand, ergriff ihn und ließ ihn widerwillig wieder los. Sinnlos. Ms. Avery würde sich fragen, weshalb er seinen Abschlußaufsatz mit auf die Toilette nahm. Er hätte die beweiskräftigen Seiten aus dem Ordner nehmen und zerknüllt in die Tasche stecken sollen, bevor er gebeten hatte, ob er auf die Toilette durfte. Jetzt war es zu spät.
Jake ging den Mittelgang entlang zur Tür und ließ den Ordner auf dem Tisch liegen und den Schulranzen darunter stehen.
»Gute Verrichtung, Chambers«, flüsterte David Surrey und kicherte in die hohle Hand.
»Wirst du wohl dein Schandmaul halten, David«, sagte Ms. Avery, die inzwischen eindeutig entnervt war, und die ganze Klasse lachte.
Jake kam zur Tür zum Flur, und als er den Knauf ergriff, kam das Gefühl von Hoffnung und Gewißheit wieder über ihn: Das ist sie wirklich. Ich werde diese Tür aufmachen, und die Wüstensonne wird hereinscheinen. Ich werde den trockenen Wind im Gesicht spüren. Ich werde hindurchgehen und dieses Klassenzimmer nie wieder sehen.
Er machte die Tür auf, und auf der anderen Seite lag nur der Flur, aber mit einem hatte er recht: Er sah das Klassenzimmer von Ms. Avery nie wieder.
4
Er ging langsam den düsteren, holzgetäfelten Flur entlang und schwitzte leicht. Er ging an Klassenzimmertüren vorbei und war versucht, jede einzelne zu öffnen, wären nicht die durchsichtigen Glasscheiben in ihnen gewesen. Er sah Mr. Frenchs Unterricht Französisch II und Mr. Knopfs Einführung in die Geometrie. In beiden Zimmern saßen die Schüler mit Bleistiften in der Hand und hängenden Köpfen über Lehrbüchern. Er sah in Mr. Harleys Rhetorikkurs und erblickte Stan Dorfman – einer der Bekannten, der nicht ganz ein Freund war –, der gerade seine Abschlußrede begann. Stan sah aus, als litte er Todesangst, aber Jake hätte Stan sagen können, daß er keine Ahnung hatte, was Angst – richtige – wirklich war.
Ich bin gestorben.
Nein, bin ich nicht.
Bin ich.
Bist du nicht.
Doch.
Nein.
Er kam zu einer Tür mit der Aufschrift MÄDCHEN. Er stieß sie auf und rechnete damit, einen strahlenden Wüstenhimmel und den blauen Dunst von Bergen am Horizont zu sehen. Statt dessen sah er Belinda Stevens, die an einem der Waschbecken vor dem Spiegel stand und sich einen Pickel auf der Stirn ausdrückte.
»Herrgott noch mal, muß das sein?«
»Entschuldige. Falsche Tür. Ich habe gedacht, es wäre die Wüste.«
»Was?«
Aber er hatte die Tür bereits losgelassen, und sie schwang an ihrem pneumatischen Ellbogen zu. Er ging am Trinkbrunnen vorbei und machte die Tür mit der Aufschrift KNABEN auf. Das war sie, er war ganz sicher, das war die Tür, die ihn zurückbringen würde…
Drei Pissoirs glänzten fleckenlos unter Neonlicht. Ein Wasserhahn tropfte ernst in ein Waschbecken. Das war alles.
Jake ließ die Tür zufallen. Er ging weiter den Flur entlang, wobei seine Absätze ein leises Klacken auf den Fliesen erzeugten. Er sah im Vorübergehen ins Büro, konnte aber nur Ms. Franks sehen. Sie telefonierte, wippte mit dem Bürostuhl auf und ab und spielte mit einer Haarlocke. Die Silberglocke stand neben ihr auf dem Schreibtisch. Jake wartete, bis sie sich von der Tür abgewandt hatte, dann huschte er vorbei. Dreißig Sekunden später trat er in den strahlenden Sonnenschein eines Maimorgens hinaus.
Ich bin ausgerissen, dachte er. Nicht einmal seine Belastung konnte ihn abhalten, über diese unerwartete Entwicklung zu staunen. Wenn ich in fünf Minuten oder so nicht von der Toilette zurückkomme, wird Ms. Avery jemanden nachsehen schicken… und dann werden sie es wissen. Sie werden alle wissen, daß ich die Schule verlassen habe, daß ich ausgerissen bin.
Er dachte an den Ordner, der auf seinem Pult lag.
Sie werden es lesen und denken, daß ich verrückt geworden bin. Fou. Auf jeden Fall. Klar doch. Und sie haben recht.
Dann meldete sich eine andere Stimme zu Wort. Es war, dachte er, die Stimme des Mannes mit den Kanoniersaugen, des Mannes, der zwei große Revolver um die Hüfte
Weitere Kostenlose Bücher