Der Dunkle Turm 3 - Tot
oder zweihundert, oder vierhundert. Die Luft dieser Welt schien vollkommen klar zu sein, was das Schätzen von Entfernungen zu einem vergeblichen Unterfangen machte. Sie war nur sicher, daß der Anblick dieser schemenhaften Türme sie mit stummem Staunen erfüllte… und einem brennenden, quälenden Heimweh nach New York. Sie dachte: Ich glaube, ich würde fast alles tun, um noch einmal die Silhouette von Manhattan von der Triborough Bridge aus zu sehen.
Dann mußte sie lächeln, denn das entsprach nicht der Wahrheit. Die Wahrheit war, sie würde Rolands Welt gegen nichts eintauschen. Ihre stummen, geheimnisvollen und endlosen Weiten machten süchtig. Und ihr Geliebter war hier. In New York – jedenfalls dem New York ihrer Zeit – wäre sie Hohn und Spott ausgesetzt gewesen, Zielscheibe grausamer Streiche eines jeden Idioten: eine sechsundzwanzigjährige schwarze Frau mit ihrem käseblassen Liebhaber, der drei Jahre jünger war als sie und die Angewohnheit hatte, zu plappern wie eine Quasselstrippe, wenn er nervös wurde. Ihr käseblasser Liebhaber, der bis vor acht Monaten den Affen der Sucht auf dem Rücken getragen hatte. Hier war niemand, der hänselte oder lachte. Hier zeigte niemand mit Fingern auf sie. Hier existierten nur Roland, Eddie und sie, die drei letzten Revolverleute der Welt.
Sie ergriff Eddies Hand und spürte diese warm und tröstlich auf ihrer.
Roland deutete voraus. »Das muß der Fluß Send sein«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich hätte nie gedacht, daß ich ihn jemals in meinem Leben sehen würde… ich war nicht einmal sicher, ob es ihn tatsächlich gibt, wie bei den Wächtern.«
»Wie schön«, murmelte Susannah. Sie konnte den Blick nicht von der weiten Landschaft nehmen, die üppig in der Wiege des Sommers döste. Sie stellte fest, daß sie mit den Augen den Schatten der Bäume folgte, die meilenweit über die Ebene zu fallen schienen, da die Sonne sich dem Horizont näherte. »So müssen unsere großen Savannen ausgesehen haben, bevor sie besiedelt wurden – sogar bevor die Indianer kamen.« Sie hob die freie Hand und deutete auf die Stelle, wo die Große Straße zum Punkt wurde. »Da ist unsere Stadt«, sagte sie. »Richtig?«
»Ja.«
»Sieht gut aus«, sagte Eddie. »Ist das möglich, Roland? Könnte sie noch weitgehend intakt sein? Haben die Altvorderen so gut gebaut?«
»In diesen Zeiten ist alles möglich«, sagte Roland, aber er hörte sich zweifelnd an. »Du solltest dir aber nicht zu viele Hoffnungen machen, Eddie.«
»Hm? Nein.« Aber Eddie machte sich Hoffnungen. Die Silhouette, die sich vage abzeichnete, hatte Heimweh im Herzen von Susannah geweckt; in Eddie entfachte sie ein plötzliches Feuer der Entschlossenheit. Wenn die Stadt noch existierte – was eindeutig der Fall war –, dann war sie vielleicht noch bewohnt, und möglicherweise nicht nur von den nichtmenschlichen Wesen, die Roland unter den Bergen gesehen hatte. Die Stadtbewohner konnten
(Amerikaner, flüsterte Eddies Unterbewußtsein)
intelligent und hilfreich sein; sie konnten sogar den Unterschied zwischen Erfolg und Scheitern der Suche der Pilger ausmachen… sogar über Leben und Tod. In Eddies Kopf erstrahlte hell eine Vision (die teilweise aus Filmen wie Starfight und Der dunkle Kristall stammte): ein Rat runzliger, aber würdevoller Ältester, die ihnen ein erstklassiges Menü aus den unverseuchten Vorratskammern unter der Stadt vorsetzten (oder vielleicht aus speziellen Gärten, die unter Umweltkuppeln gehegt wurden) und die, während er und Roland und Susannah sich besinnungslos aßen, genau erklären würden, was vor ihnen lag und was alles zu bedeuten hatte. Ihr Abschiedsgeschenk für die Weggefährten würde aus einer preisgekrönten Touristenkarte bestehen, auf der der beste Weg zum Dunklen Turm rot eingezeichnet war.
Eddie kannte den Ausdruck Deus ex machina nicht, aber er wußte – weil er inzwischen hinreichend erwachsen geworden war –, daß solche weisen und gütigen Männer hauptsächlich in Comics und B-Filmen zu Hause waren. Dennoch war die Vorstellung berauschend: eine Enklave der Zivilisation in dieser gefährlichen, weitgehend menschenleeren Welt; weise Elfen, die ihnen genau sagten, was zum Henker sie eigentlich tun mußten. Und der märchenhafte Umriß der Stadt, der sich in der dunstigen Silhouette offenbarte, machte diese Vorstellung immerhin möglich. Selbst wenn die Stadt verlassen und die Bevölkerung durch den längst vergangenen Ausbruch einer Seuche oder chemische
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