Der Effekt - Roman
wohl angepackt hätte. Wahrscheinlich ziemlich schlecht, entschied sie, wenn man mal bedenkt, dass er ja gleich zu Anfang den Fehler begangen hatte, Shoeless Dan ernsthaft als Verbündeten in Betracht zu ziehen, wenige Stunden bevor er von ihm angegriffen wurde. Auf Schwierigkeiten hatte Pete leider immer mit der typischen Sorglosigkeit eines australischen Surfers reagiert. Zwar hatte er seine Geschäfte mit dem nötigen Ernst abgewickelt und brenzlige Situationen immer clever gemeistert, dennoch war er so durch und durch Australier, dass er auf diese typisch naive
Art daran geglaubt hatte, alles werde sich von allein zum Guten wenden.
Julianne Balwyn hatte in ihrem Leben andere Erfahrungen gemacht. Auf Außenstehende mochte sie wie eine typische reiche Engländerin wirken, die verwöhnte Tochter eines Landedelmannes, die die besten Schulen besucht hatte, die schönsten Adelstitel ihr Eigen nannte und die uralten Privilegien ihrer Familie genoss. In Wirklichkeit hatte Jules ihr früheres Leben als unsicher empfunden. Ständig war sie gezwungen gewesen, den äußeren Schein zu wahren, und musste gegen die Behäbigkeit und Selbstzufriedenheit ihrer Eltern ankämpfen, die sich auf ihren Titeln ausgeruht hatten. Zum Glück hatte sie diesen ganzen Unsinn hinter sich gebracht.
»Also gut«, sagte sie. »Wir brauchen keine Barkeeper oder Butler. Aber ich habe mir die alte Mannschaftsaufstellung angesehen und bin zu dem Schluss gekommen, dass wir gut ein Dutzend Leute anheuern müssen, die sich um den Maschinenraum, die Brücke, das Computersystem und die üblichen Aufgaben an Deck kümmern müssen. Ein Schiffsarzt könnte ebenfalls von Nutzen sein. Vor allem benötigen wir einen fähigen Steuermann, der das Schiff auch bei schwerem Wetter sicher führen kann. Und einen Navigator, falls das GPS-System zusammenbricht. Aber wo soll das bloß alles enden? Und wie soll ich die bezahlen?«
Shah nahm einen großen Schluck von seinem Kaffee.
»Sie müssen sie nicht bezahlen«, sagte er. »Die müssen Sie bezahlen.«
»Wie bitte?«
Jules war überrascht und fasziniert. Ihr neuer Sicherheitschef hielt seinen Becher in die Höhe.
»Dieser Kaffee, Miss Julianne, stammt aus Ihren eigenen Beständen. Wenn Sie ihn heute hier gekauft hätten, hätte er 25 Euro gekostet.«
Jules runzelte die Stirn, aber natürlich hatte er Recht. Sie wusste, dass der Dollar als Leitwährung verschwunden war und inflationäre Entwicklungen die Folge waren. Die vielen Dollar im Laderaum der Diamantina waren längst auf einen Bruchteil ihres einstigen Wertes zusammengeschrumpft. Sie mussten so schnell wie möglich angelegt oder ausgegeben werden. Die kleine Hütte, in der sie ihr Büro für fünf Tage eingerichtet hatte, kostete sie 50 000 Dollar. Inzwischen wäre sie wahrscheinlich zehnmal so teuer. Sofort nach ihrer Ankunft im Hafen hatte sie versucht, das Bargeld loszuwerden. Immerhin waren ihr beim Kauf von Treibstoff, Lebensmitteln, Gold, Medizin und Waffen noch vierzig Cent pro Dollar angerechnet worden.
Shah stellte sich an die Reling und deutete auf die Partystimmung auf den Schiffen im Hafen.
»Im Augenblick geht es diesen Leuten noch gut«, sagte er. »Sie haben was zu Essen, ein Dach über dem Kopf, fühlen sich sicher und mächtig.«
Er drehte sich um und deutete auf die wesentlich beunruhigendere Szene im Zentrum von Acapulco, wo unkontrollierte Feuer und elektrische Lichter miteinander konkurrierten und die Nacht erhellten.
»Da drüben«, fuhr er fort, »geht es manchen Leuten noch ganz gut, aber viele sind schon in Bedrängnis geraten. Sie haben Angst. Bald wird Panik ausbrechen. Vor allem bei den Amerikanern. Eine Tasse Kaffee, ein Laib Brot könnten dann schnell mehr wert sein als ein Menschenleben. Die Leute werden Sie dafür bezahlen, dass Sie sie von hier fortbringen.«
»Amerikanische Flüchtlinge?«, überlegte sie laut. Die reichsten Flüchtlinge, die man sich vorstellen konnte. Ein bizarrer Gedanke. Aber ein naheliegender, angesichts der aktuellen Situation und der Zukunftsaussichten. »Aber wohin sollen wir sie bringen? Nach Alaska? Hawaii? Ich
habe gehört, dass die Menschen von Hawaii wegwollen. Ich glaube nicht, dass sie da überhaupt Leute reinlassen. Das Gleiche gilt wohl für Seattle. Sie lassen Hilfslieferungen rein und Leute raus, und das war’s dann auch.«
Shah bewegte kaum merklich seine Schulter. Es war seine Version eines Schulterzuckens.
»Wenn Sie englischsprachige Passagiere haben, bringen Sie sie in
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