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Der Ehrengast

Der Ehrengast

Titel: Der Ehrengast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Gordimer
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ein Mechanismus oder ein ethisches Konzept? Macht die Verkündung eines Gesetzes das Gesetz gerecht? Kann Gerechtigkeit durch ein solches Gesetz geschehen? Ich dachte, die Antwort auf diese Frage sei schon in Nürnberg gegeben worden.«
    »Sie wurde in Nürnberg nicht gegeben. Sie wurde niemals und nirgendwo gegeben«, sagte Dando mit gereizter Geduld. »Aus dem einfachen Grund, weil es so etwas wie Internationales Recht im Sinne eines internationalen Standards von Gerechtigkeit nicht gibt. Internationales Recht ist ein Stichwort für Interpol, für den Austausch von Flüchtlingen und Spionen, für blutige Grenzkämpfe und Balgereien um Luftraum und Drei-Meilen-Zonen für Heringsflotten. Gerechtigkeit ist ein empirisches Problem, das von jedem Land so gelöst wird, daß ein ganz bestimmtes Gesellschaftssystem aufrechterhalten werden kann. Du solltest das wissen. Menschenrechtskonvention! Warum nicht gleich die Bergpredigt? Phrasen, die sich gut anhören, Mann.«
    »Natürlich habe ich eine Menge Leute dort unten getroffen, die sich Sorgen machen. Sehr, sehr große Sorgen wegen dieses Problems, Professor Bayley …«
    »Was für ein Klima, in dem die Menschen da existieren müssen! Könnten Sie in einem solchen Land leben?« Neil Bayleys Oberschenkel rollten auseinander, seine Arme öffneten sich weit, er schien mit dem ganzen schwarzen Kontinent nach Belieben zu schalten und zu walten, mit den schlammigen Uferndes Niger und Kongo, den Wäldern und Wüsten, den scheuen Batwa und eingeschrumpften Buschnegern, den schönen Prostituierten von Brazzaville und den wißbegierigen Schulkindern aus Gala. »Könnten Sie das, Graspointner?«
    »Nun, ich weiß es nicht. Man darf in dieser Frage nicht vorschnell urteilen. Jemand erzählte mir, seine
raison d’être
sei, dort in Opposition zu leben, einfach dazusein, halsstarrig, selbst wenn er nicht viel zur Veränderung der Lage beitragen kann. Ich bin kein Revolutionär, sagte er, ich habe nicht den Mut, mich auf das Risiko einzulassen, daß man mich verhaftet. Aber ich darf sie nicht damit durchkommen lassen, ohne Zeugen. Ich muß bleiben und geistigen Widerstand leisten. Das ist meine Situation; ich habe nichts anderes, das mir etwas bedeutet.«
    »Ekelhaft.«
    »Natürlich, im täglichen Leben, gab er zu, … entwickelt man eine gewisse Gleichgültigkeit … man läßt den Dingen ihren Lauf, nicht?« Der Amerikaner wandte sich an Bray, um ihn einzubeziehen.
    Bray sagte vorsichtig: »Ich hab neulich was gelesen – jedes Volk hat eine besondere Art der Gewalttätigkeit … nach einer gewissen Zeitspanne kann sich jeder innerhalb fast aller Grenzen zu Hause und geborgen fühlen – man gewöhnt sich an alles.« Und er überlegte, woher habe ich das denn? Irgendwo bei Graham Greene? Warum halte ich mich in letzter Zeit immer wieder an die Meinungen anderer Leute und lasse mich selbst dabei aus dem Spiel?
    Neil Bayley stand auf und versperrte dem Kellner den Weg. »Ja, danke
vielmals
. Wenigstens kann sich jeder seine eigene Gewalttätigkeit aussuchen. Aber nicht alle sind gleich schlimm, darauf kommt’s an. Und ich lasse mir nicht einreden, daß wir alle gleichermaßen schuldig sind. Das ist sentimental. Also, könntest du da leben, James, als Weißer, und ›geistigen Widerstand‹ leisten?«
    Dando sagte: »Sei kein größerer Akademikertrottel als nötig, Neil. Natürlich könnte er dort nicht leben. Jesus, er wurde vonden Briten aus diesem Land hier rausgeschmissen, da warst du noch …«
    »Ja, ja – ein Rotzjunge, dem sie in Exeter den Arsch versohlten.« Bayley kannte Dandos Ausfälligkeit in allen ihren Variationen. Sie lachten; ein lauter Tisch in dem lärmerfüllten Raum. Bayley setzte sich wieder zu einem Glas von Dandos Wein nieder, und Bray bekam eine feine Zigarre mit den Initialen des Juristen auf der Banderole. »Ich hab einen Freund, der kriegt sie aus Kuba. Weiß Gott, wie er das macht. Die Banderole kommt wohl in Tampa drauf, vermute ich.«
    Er dachte, auch ich habe einen Freund, der Zigarren mag. Er mußte die Runde verlassen, um ein geborgtes Dinnerjackett und Hosen für das Golden Plate Dinner von der Frau des Sekretärs des Ministers für Entwicklung und Planung abzuholen – die ideenreiche Vivien hatte das arrangiert. Gabriel Odises Frau war Sozialarbeiterin, und die Büros ihrer Amtsstelle waren im alten Teil der Stadt untergebracht, dem Streifen aus menschlichen Behausungen entlang der Bahnlinie, der einmal die ganze Stadt dargestellt hatte. Ein

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