Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
seine letzten Lebensjahre zu verbringen, Krebs, sagt sie, als wäre das unvermeidlich, und Daniel fällt der Vater ein, den er fast vergessen hat, der nur manchmal wie ein Flashback in der Erinnerung aufblitzt.
Seltsamer Zufall, denkt er, dass sie ausgerechnet jetzt von einem Todkranken ezählt, ausgerechnet jetzt, da Fil im Koma liegt.
Sie bietet ihm an mitzukommen, und er macht sich fertig; springt kurz ins Bad, packt ein paar Sachen in seine Tasche, das Werbegeschenk.
Eine halbe Stunde später rollen sie bereits auf der dicht befahrenen Europastraße an abgeernteten Getreide-, Raps-, Sonnenblumenfeldern, an Schafherden, Tankstellen, LKW -Stellplätzen vorüber. Die Sonne ist aufgestiegen, steht grell am Himmel, fällt immer wieder heiß durch das Seitenfenster auf die Kunststoffsitze, weicht die Verschalung über dem Handschuhfach auf.
Was er in Berlin mache, fragt sie, als habe sie sich vorgenommen, an diesem Tag etwas über ihn zu erfahren.
Sie wisse es doch: Er studiere.
Aber was macht er, wenn er nicht studiert?
Er überlegt; eine Frage, auf die er keine rechte Antwort weiß. Er gehe aus. Aber zuletzt sei er nicht besonders viel aus gewesen. Und er höre gern Musik.
Was für Musik?
Alles Mögliche, ausgefallene Sachen, was man nicht so kennt.
Sie fragt, ob er etwas dabei hat; etwas, das sie jetzt hören könnten.
Er zögert. Zuletzt, sagt er, sei er irgendwie ruhebedürftig gewesen.
Seit mein …
Er beendet den Satz nicht.
Seit was?
Er schüttelt den Kopf.
Auf der Straße kommen ihnen zwei LKW entgegen, Daniel hört das lange, laute Hupen einer Zugmaschine, sieht die Fahrzeuge schon zusammenkrachen, den Wagen von der Straße fliegen, sich überschlagen. Am Ende stirbt er, nicht der Vater. Würden sie Daniels Organe dem Vater einsetzen, würde Fil dank Daniel weiterleben? Aber Michaela zieht das Auto nur einfach ein Stück nach rechts, auf die Standspur, fast in den Graben, und drückt den Rücken durch, gegen den Sitz, als sei nichts geschehen.
Die meistbefahrene Straße Rumäniens, sagt sie, angeblich eine der gefährlichsten in ganz Europa.
Sie verlassen die Hauptstraße, der Shell-Atlas liegt aufgeschlagen auf seinem Schoß, und biegen Richtung Nordwesten ab, Apuseni-Gebirge ist auf der Karte zu lesen.
Die Frau blickt konzentriert auf die Straße, Daniel betrachtet sie von der Seite, fragt sich, was der Vater an ihr fand, warum er sie Conny und ihm selbst vorzog. Ob es ihre Offenheit, Großzügigkeit, ihr drahtiges Aussehen war oder ob die Nächte auf den Konzerten, die Rebellion, die Barrikadenkämpfe sie zusammenschweißten. Ela war achtzehn, als sie mit dem Vater zusammenkam, 1987, überschlägt er, Punk war da eigentlich schon nicht mehr angesagt.
Warum sie nach Rumänien zurückgekommen ist, fragt er. Hatte sie Heimweh?
Berlin sei ihr auf die Nerven gegangen, der Zeitgeist, die Cocktail-Läden.
Also nicht wegen der Freunde?
Doch auch die Freunde hätten sich komisch entwickelt. Alle hätten plötzlich Geld gemacht, Ende der neunziger Jahre, hätten eine Eisdiele eröffnet oder mit der Erbschaft der Eltern Immobilien gekauft.
Die Hausbesetzer haben Immobilien gekauft?
Ja, die gleichen Leute, die einem jahrelang mit ihren Parolen in den Ohren gelegen hatten.
Und dann: In Rumänien habe ihre Familie noch dieses Haus besessen, das sei ihr entgegengekommen, sie habe in Berlin ziemliche Probleme gehabt.
Du hast es verbockt , denkt Daniel, alles verbockt.
Und sie hat die Entscheidung nie bereut?
Sie schüttelt den Kopf.
Mit Berlin habe sie abgeschlossen. Ihr gefalle das Landleben, sie sei ein richtiges Landei geworden.
Neben der Straße ziehen Wälder vorbei, die selben dichten, kaum besiedelten Wälder, die Daniel schon auf der Zugfahrt aufgefallen sind.
Willst du fahren? schlägt sie unvermittelt vor.
Und er nickt.
Nach einer weiteren Stunde Fahrt erreichen sie eine Anhöhe, einen kleinen Pass. Dahinter erstreckt sich, mitten im Wald, ein Industriekomplex, eine gigantische, verfallene Bergbauanlage. Die Halden sind apokalyptisch-rostbraun verfärbt, leere Rampen, ein gewaltiges Förderband, das seit Jahren stillstehen muss, beherrschen das Bild.
Ela lässt Daniel neben einer kaputten Fabrikhalle halten, einem riesigen Komplex. Glasdächer liegen zersprungen am Boden, ein Stahlgerüst zeigt, vom eigenen Gewicht zum Einsturz gebracht, wie ein sklerotischer Finger in den Himmel, die Frontfassade der Halle ist eingestürzt. Zwei Kinder steigen im Schrott herum und
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