Der eine Kuss von dir
angewurzelt da und nippe an meinem Drink. Und mein Herz droht zu zerbersten.
UM 12 UHR werde ich geweckt. Edgar steht in meinem Zimmer und räumt meinen Rucksack ein. »Die fahren sonst ohne uns ab.« Er zieht an meinem Bein.
Ich steige aus dem Bett, strecke mich und höre es an einigen Stellen knacken. So richtig erholt bin ich nicht, wahrscheinlich hätte ich bis zum Abend durchschlafen können. Linda ist nicht da und auch ihre Klamotten sind vom Boden verschwunden. Ich nehme das Handy vom Nachttisch, wähle die Nummer meiner Eltern und verschwinde im Bad. Der Anrufbeantwortet meldet sich.
»Hallo Mama, hallo Papa. Ich bin’s. Ihr seid nicht da, aber ich weiß nicht, ob ich es heute noch mal schaffe anzurufen. Hiermit melde ich mich, weil ich eine pflichtbewusste Tochter bin, jawohl! Wir fahren heute nach Eberswalde. Dieser Name hört sich echt gruselig an. Ich wünschte, wir hätten hier so coole Namen wie die amerikanischen Kleinstädte: Jackson, Springfield, Richmond. Das würde auch besser zu der ganzen Musik passen, aber Eberswalde … ich weiß nicht. Na ja, mir geht es jedenfalls gut, ich esse, ich schlafe und ich nehme keine Drogen, also alles paletti! Bis bald dann.«
Im Spiegel sehe ich in mein zerknautschtes Gesicht. Die Wimperntusche ist verschmiert und meine Lippen sind ganz rau, zu viel geküsst, zu wenig getrunken. Ich springe rasch unter die Dusche, lasse kaltes Wasser über meinen Körper laufen, damit ich endlich wach werde und muss dabei laut kreischen.
»Alles okay?«, schreit Edgar.
»Jaaaaaaah!« Ich drehe den Wasserhahn zu, trockne mich ab und bringe schnell meine Haare in Ordnung. Die Erinnerung an gestern Nacht zaubert ein Lächeln in mein Gesicht, und ich kann es nicht erwarten, Milo wieder zu begegnen.
»Mach hinne!«, drängelt Edgar und hämmert an die Badezimmertür.
Mit der Zahnbürste im Mund räume ich meinen Kram in den Kulturbeutel und werfe ihn Edgar zu, damit er ihn in den Rucksack stecken kann. »Fertig!« Ich greife mir meine Jeans, die neben dem Bett liegt wie eine plattgefahrene Schlange, schlüpfe rein und werfe mir die Strickjacke über die Schulter. »Hast du meine Kamera eingepackt?«, frage ich Edgar.
»Alles erledigt! Und jetzt los!« Er greift mich am Arm und zerrt mich aus dem Zimmer. Wir poltern die knarrenden Treppen runter.
Draußen stehen schon alle vor den Autos und sehen dabei nicht besonders gut gelaunt aus. Ich versuche, Milos Blick abzupassen, aber er schaut hochkonzentriert auf die Straßenkarte und bemerkt mich nicht. Edgar wirft meinen Rucksack in den Kofferraum. Tom kommt auf mich zu. »Hey, hast du Dan irgendwo gesehen?«
»Dan? Gestern, ja.«
»Danach, meine ich.« Er ist genervt.
»Ich habe bis eben geschlafen«, verteidige ich mich.
»Scheiße!« Er tritt wütend gegen den Autoreifen und spuckt auf den Boden.
»Was ist los?«
»Niemand weiß, wo er ist.« Tom sieht sich nach allen Seiten um.
»Vielleicht ist er noch in seinem Zimmer? Ruf ihn doch mal an«, schlage ich vor und schaue hoch zu dem Fenster, wo Dans Zimmer sein müsste.
»Nein, Mann, da haben wir schon nachgesehen. Überall haben wir nachgesehen! Ich habe auch schon angerufen. Bin ja nicht bescheuert.« Sein Ton klingt vorwurfsvoll, als könnte ich etwas dafür, dass Dan nicht da ist. »Vergiss es!« Er lässt mich stehen und rennt ins Haus.
Ich krame in meiner Erinnerung und weiß noch, dass ich Dan das letzte Mal gesehen habe, als wir uns über Mandy aus Brandenburg unterhalten haben. Danach war er verschwunden, ich aber auch, und schließlich bin ich nicht seine Babysitterin, also soll Tom sich schön wieder abregen. Ich verkrümele mich auf die Rückbank des Opels und knalle die Tür zu. Durch das Fenster beobachte ich Milo, der jetzt zusammen mit Linda am VW -Bus steht. Linda zeigt Milo ihren Arm mit dem Lederband, das sie mir gestern weggenommen hat. Sie lächelt und neigt den Kopf zur Seite. Milo nickt. Linda klatscht in die Hände, umklammert das Band und hüpft ein paar Mal auf und ab. Dann huscht ihr Blick zu mir, nur den Bruchteil einer Sekunde, und vielleicht bilde ich mir das auch ein, aber ich glaube, ein Siegeslächeln auf ihren Lippen zu erkennen.
Scheiße! Der Tag fängt nicht besonders gut an.
Edgar setzt sich zu mir und bietet mir einen Kopfhörer an. Ich nehme ihn und stecke ihn mir ins Ohr. »Was ist das?«
»Fleet Foxes. Cooler Hippie-Scheiß«, antwortet Edgar und legt seine Füße auf die Lehne des Fahrersitzes.
»Klingt gut«, befinde ich
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