Der eine Kuss von dir
sie wäre hier neben mir im Auto.
»Na, dann nichts wie weg da!«
»Wir sind schon dabei. Die Jungs räumen die letzten Sachen ein.« Ich lege mich auf die Hinterbank, drehe mich auf die Seite.
»Ich bin so ein Feigling, Maja«, jammere ich in den Hörer.
»Bist du nicht.« Maja seufzt, sie ist für Gefühlsduseleien nicht zu haben, und für Selbstmitleid schon gar nicht. Aber ich will es jetzt trotzdem jemandem sagen. »Weißt du, da gab es diese Schlägerei, und mein erster Impuls war wegrennen. Alle anderen sind hingerannt, haben sich eingesetzt, wollten beschützen und ich … ich bin einfach weggerannt. Ich bin zu diesen Kleingärtnern gerannt, damit die übernehmen …«
»Du hast Hilfe geholt.«
»Ja, aber alle anderen …«
»Hör schon auf, Frieda. Alle anderen, alle anderen … Zwischen allen anderen muss es eben jemanden geben, der die Hilfe holt. Mann, so bist du eben. Du warst noch nie jemand, der sich in die Sachen stürzt, du bist jemand, der den Überblick behält und dann mit klarem Kopf reagiert. Nimm das doch endlich mal so an!« Maja wird ungeduldig.
Ich weiß, dass sie es nicht leiden kann, wenn ich rumnöle, sie sagt, man dürfe damit keine kostbare Lebenszeit verschwenden. Und es geht mir ja auch gleich besser. »Danke, Maja.«
»Nichts zu danken. Und jetzt raus da mit euch aus diesem Nazi-Verein! Echt, wer fährt denn auch schon freiwillig durch Brandenburg.«
Wir legen auf, und ich spähe vorsichtig durchs Fenster, wie weit die anderen sind. Linda sitzt mit angewinkelten Beinen auf dem Fahrersitz des Bandbusses bei geöffneter Tür und lackiert sich die Zehen. Sie entdeckt mich hinter der Scheibe, lächelt und hebt ihre Hand. Ich nicke ihr zu und bin froh, als Edgar und Matse endlich in den Wagen steigen und wir losfahren können.
ERST ALS WIR das Eberwalde-Ausfahrtsschild passiert haben, kann ich meine Muskeln wieder entspannen. Ich atme ein paar Mal tief ein und aus und kurble die Fensterscheibe runter, um frische Luft in das Auto zu lassen.
»Wo fahren wir jetzt hin?«, frage ich und bekomme als Antwort von beiden Jungs nur ein Schulterzucken.
Ich hole aus meinem Rucksack ein Notizheft und versuche, ein Konzept für die Dokumentation zu entwerfen, kann mich aber nicht konzentrieren und kritzle stattdessen verzerrte Fratzen aufs Papier.
Matse dreht das Autoradio voll auf, keiner hat jetzt Lust zu reden.
Eine halbe Stunde später fährt der Bandbus an einem Parkplatz rechts ran. Matse setzt den Blinker und folgt. Wir steigen aus.
»Lagebesprechung«, sagt Tom, setzt sich im Schneidersitz auf den Boden und lehnt sich an den Bus.
Milo holt einen Kasten Zitronen-Limonade aus dem Van, den die Jungs noch aus einer Rachelaune heraus aus der Kleingartenanlage geklaut haben, und stellt ihn in der Mitte ab. Jeder darf sich bedienen.
Linda bleibt im Bus, breitet sich über die gesamte Rückbank aus und macht irgendwelche Dehnungsübungen.
Der Rest versammelt sich um den Kasten. Ich kann nicht widerstehen und muss diese Szene aufnehmen, sie erinnert mich an alte Hippie-Filme.
»Wir haben keine Übernachtung für heute.« Milo eröffnet die Krisensitzung.
»Wir sind sechzig Kilometer von Berlin entfernt. Wir könnten reinfahren und heute mal gemütlich zu Hause schlafen«, schlägt Edgar vor.
»Dann ist aber das Gefühl von Tour weg. Hab ich keinen Bock drauf«, wirft Robert ein und holt sich ein Bier aus dem Kasten im Bus.
»Die Tour ist sowieso am Tiefpunkt.« Tom pflückt sich einen Grashalm aus der Gehwegspalte und steckt ihn in den Mund.
»Blödsinn! Wir brauchen nur mal wieder einen guten Gig. Diese Johnny-Cash-Nummer hat uns zurückgeworfen, die Nazi-Idioten haben uns nur daran erinnert, wo wir sind, aber morgen in Frankfurt wird’s cool, richtig cool.«
Ist Milo als Bandleader auch gleichzeitig für die Motivation verantwortlich?
»Wir könnten campen«, sagt Robert und trinkt die halbe Flasche in einem Zug aus. Dann schlägt er sich auf die Brust und rülpst laut.
»Ich schlafe im Bus!!!«, ruft Linda aus dem VW .
»Na klar, Prinzessin«, nuschelt Robert, aber so leise, dass Linda es nicht hört.
Milo und ich wechseln einen Blick. Die Aussicht auf Campen finde ich nicht unbedingt vielversprechend. Ich werde wieder nicht schlafen können, das weiß ich jetzt schon. Ich werde mich hin und her wälzen, das Schnarchen der Jungs nicht ertragen, mir Taschentücher in die Ohren stecken, frieren, mich fragen, ob Linda wohl gerade ihren Arm um Milos Bauch legt, keine
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