Der einzige Mann auf dem Kontinent - Roman
Seite, bis sie im Alter von 12 Jahren herzlich darum bat, lieber mit 11 anderen Mädchen und 6 Hochbetten in einem Wohnheimzimmer leben zu dürfen, wo einem morgens, mittags und abends ein Trommelfell quälender Klingelton angab, was man wann zu tun und zu lassen hatte. Silentium!, meistens. Die Mädchen waren wie 12(später 13 bis 18)jährige Mädchen eben sind, und Flora, die still war, gerne las und der es nicht gut gelang, wie es ihr bis heute nicht gut gelingt, Interesse für Schminken, Popmusik und Liebesverwirrungen zu heucheln, stand immer etwas am Rande. Trotzdem war es schön mit ihnen, manchmal vermisse ich sie heute noch. Sie waren das Gegenprogramm zu den Erwachsenen, von denen jeder einzelne: Lehrer, Wohnheimerzieher, Verkäuferinnen, Portiers, Pfarrer und Briefträger, natürlich die Nachbarn und leider auch Verwandte im Kasernenhofton mit ihnen und miteinander redeten, und überhaupt so taten, als wären die Zeiten nicht so, dass etwas Freundlichkeit möglich wäre. Aber mir kann keiner weißmachen, das sei deswegen so gewesen, weil man so müde davon war, in Schichten am fortgeschrittenen Sozialismus zu bauen. Die Leute sind einfach ein roher Haufen, so sieht es aus.
Ich verstehe, was du meinst, sagte Kopp. Obwohl ich nicht gelitten habe. Ich hatte weder Angst und habe gejammert wie meine Mutter, noch war ich unzufrieden und habe versucht, das System auszutricksen wie mein Vater, ich hab’s einfach genommen, wie’s kam, und das tue ich auch heute.
Glücklicher Kopp. Sie küsste ihn. Er verstand nicht genau, wofür er die Belohnung bekam, was einen, nicht wahr, keineswegs daran hindern muss, sie anzunehmen.
Mit 18 versuchte sie, herauszufinden, wer ihr Vater war. Sie bekam einen todsicheren Tipp, doch als sie dort klingelte, jagte
man sie mit Schimpf und Schande davon. Sie setzte sich auf eine Bank, die auf der Straße stand und weinte, und die Frau, die sie zuvor beschimpft und hinausgeworfen hatte, kam heraus und verjagte sie auch von der Bank und drohte ihr mit einer Anzeige. Sie lief weinend durch die Straßen, es war warm, sie trug ein blassgrünes Kleid und ausgetretene weiße Sandalen, und wer sie dort gehen und weinen sah, blickte sie missbilligend an. - So darf man sich bei uns nicht benehmen! - Eine Horde Teenager lachte grob. Als sie am Theaterplatz ankam, begriff sie, dass sie jetzt frei war. Sie hörte auf zu weinen und verließ die Kleinstadt auf Nimmerwiedersehen.
In der Hauptstadt verbrachte sie nur ein halbes Jahr, wieder war es ein Wohnheim und wieder war sie glücklich dort. Als sie ein Stipendium nach Deutschland bekam, nahm sie dieses dennoch an, und danach ging sie nicht wieder zurück. Sie hat keinen Abschluss, aber im Kulturbereich macht das nicht so viel aus. Als Kopp sie kennenlernte, war sie gerade die Assistentin eines so genannten unabhängigen Filmproduzenten geworden. Sie arbeitete Vollzeit, also ca. 60 Stunden die Woche, für 1500 Mark brutto Honorar . Ihre erste Aufgabe war es, die anderen 180 Bewerbungen für ihre Stelle wegzuwerfen. Der Chef hatte Bemerkungen wie » sexy voix « oder » mais elle est vilaine « auf die Lebensläufe geschrieben. Sie gibt zu, in seiner Abwesenheit seinen Schreibtisch nach ihrer Bewerbung durchsucht zu haben. » +/- jolie mais mal habillée. «
Frechheit! sagte Kopp.
Sie lächelte nur. Sie lächelte häufig, lachte, jammerte und schimpfte selten, selbst wenn sie sich stritt, tat sie es sanft. Sie war fürsorglich. - (Diese osteuropäischen Frauen … etc. etc. Raffiniert, wie sie ist, tut sie ihm sogar das Essen auf den Teller! etc. etc.) - Wenn sie sich begegneten, strich sie ihm übers Haar oder die Schulter. Selbst Juri, der der Meinung war, die Frau
sei »wie ein Schluck Wasser«, musste, als er einmal sah, wie sie ihm »unbemerkt« über die Schulter strich, ebenso unbemerkt vor sich zugeben, dass man ein Tölpel/ein Klotz wäre, hätte man daran etwas auszusetzen.
Du hast nur einen einzigen Fehler, Liebste. Man kann nicht mit dir saufen.
Wieso willst du mit mir saufen?
Um alles mit dir machen zu können.
Wieder lächelte sie.
Kurz und gut, es ließ sich gut an. In Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs tun wir alle so, als wären wir leichter - oder sind es vielleicht wirklich. Oder wenn sich politisch etwas zum Besseren wendet. Kannst du dir vorstellen, Juri, wie es ist, plötzlich nicht mehr in einer Diktatur zu leben? - Irgendwas kann ich mir natürlich vorstellen.
So bis zum April 2001. Sie erschien
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