Der eiserne Gustav
…
Warum muß es denn das eine bestimmte Dorf in der Pasewalker Gegend sein? Jedes Dorf, durch das er fährt, ist irgendwie Heimat. In jedem Dorf ziehen die Leute morgens mit ihren Gespannen aufs Feld, läuten zu Mittag die Glocken, stehen sie in der Abenddämmerung vor den Häusern, schwatzen. Ein Mädchen läuft eilig, mit zwei Eimern klappernd, zum Brunnen. Es muß alles noch sein wie früher, auf dem Lande. Und er möchte es noch einmal sehen!
Nein, die Stadt ist ihm verleidet. Er will fort, fort aus allem Altgewohnten. Ehe der kommt, dem man nicht ausweichen kann, möchte er noch einmal etwas ganz Neues, etwas Niegetanes tun. Er hat so viel an diese Reise nach Paris gedacht, daß sie ihm gar nicht mehr absonderlich vorkommt. Gott, die Leute reisen ja immerzu, sein Lebtag hat er Reisende auf den Bahnhof gefahren – warum soll er nicht auch einmal reisen? Wieso ist das denn verrückt? Das ist etwas ganz Einfaches! Er möchte sich mal zusammenrechnen, wieviel hundertmal er schon nach Paris gefahren ist, wenn er all seine Fahrten in Berlin zusammenzählt! Nichts Besonderes – man muß bloß daraufkommen!
Ick fahr einfach los! denkt er. Da ist doch nischt weiter bei! Wat denn? Laß die doch reden, ick bin verrückt. Je verrückter die mich halten, um so besser! ’ne Ansichtspostkarte von ’nem wirklichen Verrückten kooft jeder!
So wird aus dem vagen Plan in ihm langsam ein fester Entschluß. Dabei fährt er durch den Winter seine Droschkenfuhren weiter. Aber wenn er in die Nähe einer Kartenhandlung kommt, geht er hin und betrachtet die Landkarten odereinen Erdglobus. Er ist erstaunt, wie nahe die beiden Orte aneinander liegen. Is ja man bloß’n Sticksken, denkt er. Jrade ’ne jute Daumenbreite. Ick weeß nich, wat die Leute reden, det muß doch in ’ner Woche zu machen sind.
Das Nächste sind die Ansichtspostkarten, da muß er sich auch erkundigen. Also sucht er und findet schließlich eine kleine Druckerei, die ihm aussieht, als ob er da fragen möchte …
»Ansichtspostkarten? Natürlich, wird gemacht. Das Tausend 35 Mark. Bei Abnahme von mindestens fünftausend Stück 32 Mark. Eine Unterschrift? Machen wir natürlich auch. Wie soll sie heißen? Der eiserne Gustav, ältester Droschkenkutscher von Berlin, fährt mit der Droschke von Berlin nach Paris und zurück. – Bißchen viel Unterschrift, aber machen wir auch für dasselbe Geld. – Sind Sie det selbst, der eiserne Justav?«
»Det bin ick!«
»Na, Männecken, haben Sie sich det auch jut überlecht, in Ihre Jahre?«
»So alt bin ick noch nich, knappermang siebzig. Und wat is denn da weiter bei?«
»Nee, bei is da vielleicht nischt. Bloß – haben Se denn Erlaubnis? Und Paß müssen Se doch ooch haben? So einfach über die Jrenze … Ob die überhaupt Pferd und Wagen rüberlassen? Det is doch ooch von wejen dem Zoll, vastehn Se?«
»Meinen Se, det ick Zoll zahlen muß?«
»Und können Se denn franzö’sch? Franzö’sch müssen Se doch ooch können. So mit ’nem Pferd alleene in so’m franzö’schen Dorf … Wat frißt er denn? Natürlich Hafer – wissen Se denn, wat Hafer uff franzö’sch heeßt? Nachher bringen Ihnen die für den Jaul saure J’urken. Ooch wat Schönet, wat?«
Der alte Hackendahl ist so nachdenklich über all die neu auftauchenden Probleme geworden, daß er auf die sanfte Anpflaumerei gar nicht achtet. »Na, denn danke ick ooch schön«, sagt er und will aus dem Laden.
»Na, wie ist et denn mit de Postkarten?« ruft der Drucker, der zu spät einsieht, daß er sich mit seiner berlinischen Klugschnackerei einen Kunden verscheucht hat.
»Ick werd mir det noch mal beschlafen«, sagt Hackendahl und geht. Er klettert auf den Bock und fährt. Er hält an einer Wartestelle und füttert Blücher. Er kriegt sogar Kundschaft und fährt. Kommt schließlich nach Haus und füttert, ißt selbst und kriecht ins Bette – aber er schläft nicht. Die ganze Zeit über denkt er und rechnet: Vier Monate unterwegs, denkt er. Da muß ich Mutter mindestens zweihundertvierzig Mark dalassen. Na, zweihundert reicht auch. Nein, doch zweihundertvierzig. Und für mich und den Gaul brauch ich mindestens fünfhundert. Nachtquartier und Stall und Essen und Futter. Und dann noch der Zoll. Und ein neues Geschirr müßte Blücher auch haben. Und die Droschke muß zum Schmied und Stellmacher, sonst gibt das Bruch. Macht alles in allem, schlecht gerechnet, tausend Mark. Tausend Mark sind zehntausend Ansichtspostkarten für einen Groschen.
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