Der Eiserne König
Hutzelweib merkte, dass sie nicht gegen die Singvögel ankam, hob sie ihren Stab. Die Krähen strichen ab. Die übrigen Hexen wichen zur Dornenhecke zurück und flohen durch die sich auftuenden Öffnungen.
Als alle Hexen verschwunden waren, stellten die Vögel ihr Gezwitscher ein und sammelten sich auf den Föhren. Dort saßen sie so dicht gedrängt, dass die Nadelbäume aussahen, als hätten sie lebendiges Laub.
Der Strahl sackte ab, flammte über Maleens Händen noch einmal auf und erlosch. Als die Kraft durch das Mädchen in den Sandboden zurückströmte, kribbelte Meister Grimbarts Schnauze wie verrückt, und er musste laut niesen.
Das riss die Muhme aus ihrer Trance. Sie schlug die Augen auf und sah sich um. Die Sonne versank wie eine glühende Kohle hinter dem Forst; im Westen war die Lichtung eine Wand aus schwarzen Schatten, das Gras schimmerte rötlich. Dann sah die Muhme die Vögel auf den Föhren. Sie rieb ihre Augen, um ihre Benommenheit abzuschütteln. Sie erblickte Maleen, die tief versunken dasaß, und gleich darauf die mehr tot als lebendig im Gras liegenden Gefährten. Sie erschrak und ließ ihren Blick über die Lichtung zucken.
»Die Hexen sind weg«, sagte der Fuchs. »Maleen hat sie mit der grünen Kraft der Erde und mit dem Gezwitscher ihrer Vögel verjagt.«
Die Muhme kraulte seinen Kopf. Dann schob sie ihn von ihrem Schoß, erhob sich und humpelte zu den Gefährten.
Hans sah erschöpft zu ihr auf. »Das war grauenhaft«, flüsterte er. »Der Gesang hat meine schlimmsten Ängste geweckt. Ich habe den Tod herbeigesehnt, um endlich Frieden zu finden.«
»Ja«, erwiderte die Muhme. »Ihr solltet vor Angst tausend Tode und schließlich den einen und endgültigen sterben.«
Die Pferde hatten sich beruhigt und grasten auf der Lichtung. Ein Kaltblüter rieb seine juckende Kruppe am Menhir. Die Hexen waren wie vom Erdboden verschluckt.
»Du musst ruhen«, sagte die Muhme zu Hans und stopfte ihre Pfeife. »Schlaf dich aus.«
Hans schloss die Augen. Das Letzte, was er sah, war Maleen, die eine Decke über ihm ausbreitete.
»Ich habe noch nie von Hexen im Föhrenforst gehört«, sagte die Muhme und blies Rauch aus einem Mundwinkel. »Wer hat uns diese Falle gestellt?«
Maleen schüttelte sich die Haare aus dem Gesicht und sah die Muhme ratlos an.
Die drei Frauen hatten die zu Tode erschöpften Gefährten auf Horns Trage in den Föhrenkreis geschafft. Dort schliefen sie neben einem kleinen Feuer. Horn selbst war wach; das Fieber war gesunken, und er hatte mit Staunen vernommen, was sich zugetragen hatte.
»War das nur ein Spuk?«, fragte Sanne.
»Ich weiß nicht«, antwortete die Muhme, die getrocknete und zerstoßene Pilze in den Pfeifenkopf rieseln ließ. Die Pferde schnaubten zwischen den Föhren, auf denen noch die Vögel wachten. »Du besitzt große Kräfte«, sagte die Muhme.
»Einige habe ich verloren«, erwiderte Maleen. »Zum Beispiel die Heilkraft. Aber ich war schon immer eine Freundin der Erde und der Tiere.«
»Du kannst die grüne Kraft nutzen.«
Maleen, die nachdenklich in das Feuer starrte, zuckte nur mit den Schultern.
»Dreizehn …«, brummte die Muhme. »Die Zahl gibt mir zu denken.«
»Der Menhir ist mit Hexenrunen beschriftet«, sagte Sanne, die sich am Feuer niederließ. »Dreizehn Zeilen zu je dreizehn Zeichen.«
»Bestimmt ein Spruch, den man in jeder Richtung lesen kann. Aber nur Eingeweihte kennen die Hexenrunen.« Die Muhme paffte einen Rauchring. »Dreizehn Hexen, dreizehn Krähen, dreizehn Föhren, dreizehn Runen, dreizehn Zeilen …«
»Sie lieben die Unglückszahl«, sagte Sanne lachend.
Maleen sah weiter in die Flammen. »Es juckt unter meinem linken Schulterblatt«, sagte sie. »Der Greting ruft.«
»Morgen brechen wir auf«, brummte der Dachs, der neben Maleen am Feuer lag. »Wir wissen nicht, was dieser Grimm treibt, und wir müssen die Esche finden.«
»Eile mit Weile«, schnurrte der Fuchs, der sich im Schoß der Muhme zusammengerollt hatte.
»Auf eines kann man sich bei dir verlassen«, knurrte Meister Grimbart, »wenn du die Schnauze aufmachst, kommt immer ein Gemeinplatz heraus.«
»Ah!«, rief der Fuchs. »Da tönt der Kriegsheld, der nichts zur Rettung unserer Freunde beitragen konnte.«
»Das sagt mir Reineke Fuchs, der in Märchen und Fabeln als die Listigkeit in Person gefeiert wird?«
»Das fragt mich Meister Grimbart, der in keiner Legende und Fabel einer Erwähnung für wert befunden wird?«
Der Dachs schnaubte
Weitere Kostenlose Bücher