Der Eiserne Rat
umschmeichelt zu fühlen. Er liebt das Fenn, ungeachtet der entzündeten Mückenstiche und der Diarrhöe. Durch Wolken, dünn wie verwässerte Milch, schaut er auf zu einer spätnachmittäglichen Sonne. Er fühlt sich begrünt, von Algen überzogen und durchwimmelt von Aufgusstierchen, ein Wirt, ebenso sehr eine Landschaft wie ein Leben.
Das Kind neigt die Hand mit der seiner Spezies eigenen Anmut. Die Finger sind kranzförmig um die kleine Handfläche angeordnet, ein Stern. Es ballt sie auf typische Weise: legt die spitz zulaufenden Finger zusammen wie die Blätter einer sich schließenden Blüte. Nägel verhaken sich, die Hand wird zur Speerspitze.
Das Stiltspear-Junge entfernt sich im Vierfüßergang von Judah Low. Es wendet den Kopf auf dem sehnigen Hals, eine wortlose Erkundigung, ob er mitkommt, und natürlich geht er mit. Dabei legt er die patschende Schwerfälligkeit an den Tag, die die Stiltspear ihm zugestehen wie einem Kleinkind.
Bei jedem Schritt seines jugendlichen Führers stechen seine Gliedmaßen nadelspitz ins Wasser. Judah hingegen scheint das ganze Moor nachzuschleppen und furcht es mit einer breiten Bugwelle. Er hat Glück, dass die Muhmen und Ohme dieses Welpen ihm erlauben, ihn zu begleiten, denn jeder Augenblick, den er sich draußen bewegt, erregt Aufmerksamkeit, die besser vermieden würde. Die schwarzen Kaimane und Würgeschlangen müssen sein Plätschern und Schlurren vernehmen wie den Todeskampf eines verwundeten Tieres.
Die Stiltspear-Gemeinde duldet ihn, behandelt ihn sogar wie einen geehrten Gast, weil er zwei Welpen vor einem sich plötzlich aus dem Wasser bäumenden Räuber gerettet hat. Das Tier hatte ihn als Mahlzeit ausersehen, glaubt Judah nach wie vor, ließ sich dann aber von den Kindern ablenken, die, als sich das Ungeheuer zischend und schlammbedeckt emporreckte, erstarrten und deren Camouflage-Drüsen Thaumaturgonen produzierten, die sie wie Baumstümpfe wirken ließen, nicht wie Beute.
Doch Judah hatte gebrüllt und mit dem Knüppel auf seine Botanisiertrommel geschlagen, ein erschreckender Lärm in der schläfrigen Stille des sumpfigen Flussarms. Er hätte das Vieh nicht einschüchtern können – ein turmhohes Amalgam aus Seelöwe und Jaguar und Salamander mit flossengesäumten Auswüchsen, die geeignet waren, ihm mit Leichtigkeit den Schädel einzuschlagen –, doch er verwirrte es. Es war zurück ins Wasser getaucht und unter den Binsen davongeglitten.
Seit dem Tag, seit die Geretteten nach Hause gelaufen waren und dort die Geschichte in Form einer rasch gedichteten Kavatine vorgetragen hatten, um ihre Glaubwürdigkeit zu unterstreichen, steht Judah bei den Stiltspear in hohem Ansehen.
Die Stiltspear reden nicht viel. Tage können verstreichen.
Ihre Gemeinschaft hat keinen Namen. Die kleinen Hütten wölben sich aus Schilf und Wasser und sind untereinander durch Hängebrücken verbunden. Andere Räume sind aus dem morastigen Boden ausgeschachtet. Insekten, groß wie Judahs Faust, bummeln durch die Luft, schnurrend wie große, einfältige Katzen. Die Stiltspear spießen sie auf und verzehren sie.
Am öligen Daunenkleid der Stiltspear perlt das Moorwasser ab. Ihre Fortbewegung ähnelt der von Watvögeln. Überhaupt gemahnen sie an Vögel, aber auch an magere Katzen, mit unbewegten, kaum definierten Gesichtern.
Ohme singen anbetungsvolle Balladen, wenn sie rote Ohme sind; falbe Ohme fertigen Werkzeug und Binsenhütten und pflegen die Mangrovenhaine. Die Muhmen jagen, heben bedächtig ein Bein, dann das andere – so langsam, dass sie trocken sind, bevor die gespreizten Krallen aus dem Wasser tauchen, damit nur kein fallender Tropfen die Oberfläche stört. Der Asteriskus aus Fingern bündelt sich zu einem Stilett, das über seinem eigenen Spiegelbild verharrt. Bis ein fetter Fisch oder Frosch darunterherschwimmt und die Hand ins Wasser dolcht und zurückschnellt, die Finger geöffnet, die Beute auf das Handgelenk gespießt, ein Blut tropfender Armreif.
Zwischen den Behausungen spielen die Welpen mit aus Lehm gekneteten Golems, wie in New Crobuzon die Kinder Murmeln spielen und Schieb-den-Heller. Judah macht Notizen, macht Aufnahmen mit der Helio. Er ist kein Xenologe. Er weiß nicht, nach welchen Kriterien man auswählt, was wichtig ist. Er möchte sämtliche ihrer Magicken erforschen – die instinktive Tarnung, ihre Golems, ihre Kräutermedizin, das Singulieren von Momenten.
Er kennt von keinem den Namen, weiß nicht, ob sie überhaupt Namen haben,
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