Der eiskalte Himmel - Roman
Sørlle zu lesen.
Aber er lässt uns nicht lange warten. Im Ritz habe ich die Gläser für den gewünschten Port noch nicht an alle verteilt, da hat er schon die Flasche gegriffen und hebt zum Toast an. Es gebe eine gute und eine schlechte Nachricht. Welche wir zuerst hören wollen.
»Zuerst die gute!«, kommt es von allen Seiten. Ich sehe Shackletons Blick. Er ist so wild, dass ich wegschauen muss, als er mich ansieht.
»Wir gehen es an«, sagt plötzlich nicht er, sondern Crean und blickt in die Runde. Niemand macht den Mund auf. Es ist absolut still, nur das Schiff ächzt unter dem Tonnengewicht, das ihm die Russen auf den Rücken geschippt haben. Shackleton hebt das Glas.
»Trinken wir darauf«, sagt er. Und dann gibt es kein Halten mehr. Jubel und Gejohle sind so groÃ, dass wir alles andere vergessen. Mit rot angelaufener Birne steht Bakewell vor mir, strahlt übers ganze Gesicht und drückt mich an seine Brust.
Die schlechte Nachricht betrifft das Postschiff. Pastor Gunvald ist am Morgen an Bord eines Walfängers von den Falklands gekommen â im Zustand völliger Erschöpfung und zugleich gröÃter Aufgebrachtheit, wie der Sir sagt. Die genauen Gründe kennt er nicht. Sicher ist nur, das Postschiff wird Grytviken frühestens Mitte Dezember erreichen.
»Leider viel zu spät für uns. Ich weiÃ, wir warten alle auf Post von daheim. Kein schöner Gedanke, für Monate aus der Welt zu sein, ohne einen Gruà mitzunehmen. Ich fürchte nur, dass die Wetterverhältnisse, so wie Kapitän Sørlle sie mir geschildert hat, uns keine Wahl lassen. Der Sommer geht zu Ende, bevor er richtig angefangen hat. Das Packeis ist so weit südlich wie seit zehn Jahren nicht mehr. Im Grunde â¦Â«
Er unterbricht sich und sieht uns an, die wir an seinen Lippen hängen und zugleich wissen und nicht wissen, was er uns sagen will. Ich weiÃ, dass er nicht die Absicht hat, uns zu verunsichern. Aber er scheint der Einzige zu sein, der nicht merkt, wie irritierend seine Auffassung von Ehrlichkeit ist.
»â¦Â im Grunde genommen ist es schon jetzt zu spät.«
Später stehe ich neben ihm vor seiner Bücherwand und erkläre ihm, wie ich mir die Sache gedacht habe. Er scheint ganz angetan zu sein, zieht hier und da ein Buch heraus und stellt es ordentlich zurück an den Platz. Drei-, viermal schreitet er die Regale ab und lässt dabei die Augen über die Buchrücken wandern.
»Aha, sehr gut, verstehe«, murmelt er. »Chronologische Folge, sehr klug, Merce. Denn die ist gleichbedeutend mit dem Fortschreiten der Entdeckungen. Hätten Sie nach südlichen Breitengraden sortiert, wäre das Gleiche herausgekommen, richtig? Amundsen und Scott stehen für neunzig Grad südliche Breite. Sehr schön. Ich danke Ihnen von Herzen.«
»Ein Buch von Amundsen, Sir, war nicht dabei. Ich hätte es sonst natürlich neben das von Scott gestellt.«
»Es ist nicht dabei, weil ich es gerade lese.« Shackleton öffnet die Pultklappe und reicht mir das Buch. Es heiÃt »Die Eroberung des Südpols. Die norwegische Südpolarfahrt mit der FRAM «, und es hat Jahreszahlen, dieselben wie Scotts Tagebücher, 1910â1912.
»Stellen Sie es ins Regal«, sagt Shackleton, »aber stellen Sie es an den ihm gebührenden Platz.«
Ich überlege kurz, dann stelle ich den Amundsen rechts neben den Scott â an den Schluss.
Shackleton nickt.
»Sir, ich habe noch ein anderes Buch nicht finden können, nämlich die Bibel ⦠die Bibel der Königinmutter, Sir.«
»Wie bitte? Sie stand im Regal. Wie haben Sie die Bibel der Königinmutter da übersehen, hm?«
»Ich habe keine Ahnung, Sir.«
»Sie haben sie doch wohl nicht in einem Anfall von walisischem Jähzorn über Bord geworfen?«
»Ich ⦠Sir, um Gottes willen, nein!«
Shackleton kommt auf mich zu. Als er vor mir steht, legt er mir die Hände auf die Schultern.
»Nur ein Scherz! Ich habe die Bibel bei Kapitän Jacobsen hinterlegt. Er möchte, dass Pastor Gunvald seine Predigt auf Englisch hält, ich nehme an, damit wir ihn nicht missverstehen! So, und jetzt gehen Sie schlafen. Ich muss einen Brief an meine Frau schreiben, wenn ich es mir mit ihr nicht ganz verscherzen will.«
Ehe ich in die Bunk kriechen und unter meiner Decke heulen kann, muss ich noch ein weiteres SpäÃchen
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