Der eiskalte Himmel - Roman
und seine Schreibmaschine, und ich lege die ersten Bücher frei, drei Bände der Enzyklopädie. Dann noch zwei davon, zusammengefroren zu einem ungleichen Drilling ausgerechnet mit Dalrymples »Historischer Sammlung der verschiedenen Reisen nach der Südsee im 16., 17., 18. Jahrhundert und der daselbst gemachten Entdeckungen«. Ich hatte den Wälzer kurz nach Einfahrt ins Eis zu lesen begonnen und bald darauf Shackleton zurückgegeben, empört darüber, dass Dalrymple trotz Cooks Entdeckungen weiterhin von einem bewohnten, warmen Südkontinent schreibt. Jetzt halte ich das Buch wieder in Händen und kann doch nicht mehr darin lesen. Das Eis hat die Seiten zu einem festen Block gefroren. Ein Teil davon ist herausgesprengt, nicht mehr vorhanden. Aber ich kann ohnehin nur wenig mitnehmen. Eigentlich muss alles hier bleiben, die Bücher, die mein Relingeisen ausgräbt, genauso wie Shackletons Galoschen und das kleine Blechpferd, das ihm seine Kinder als Talisman auf die Reise mitgaben. Ich stelle das Pferdchen aufs Eis, gebe ihm einen Schubs, und es schlittert hinunter in eine dunkle Ecke der Kajüte.
Ich habe mir ein hüfttiefes Loch in das Kajüteis gegraben, als ich linker Hand auf ein aus der Verankerung gerissenes und im Stück bis nach hier oben transportiertes Bücherbord stoÃe. Schicht für Schicht das vor den Buchrücken liegende Eis abgetragen, stelle ich mit rasendem Herzen fest, dass es das richtige ist: die Entdecker des 19. Jahrhunderts. Doch offenbar sind auf ihrer Wanderung durch das Eis nicht alle Bücher im Regal stehen geblieben, ich entdecke Bellingshausen, Weddell, Dumont dâUrville und Ross, dazwischen aber klaffen Lücken. Zwei Bände, die ich noch vor kurzem gelesen habe, fehlen, der Bericht über Kemps Eismeerfahrt mit der MAGNET im Jahr 1833 und das Logbuch der amerikanischen Antarktisexpedition unter Leutnant Wilkes. Und leider fehlt auch das Buch, das ich so gern mitgenommen hätte.
Ein Blick hinauf durch das Dachloch sagt mir, dass es Zeit wird, zurückzufahren. Die Dämmerung setzt ein. Das Jaulen der Hunde ist viel lauter geworden, so als würden ihnen verbleibendes Licht und zurückzulegende Entfernung den Grad der Gefahr eingeben, den die Fahrt übers Eis mit sich bringt. Ich klettere hinauf. Und oben auf dem Dach mache ich mich lang, lege die Hände vor den Mund und rufe.
Nichts. Die beiden sind noch unten.
Also einen letzten Versuch!
Ich reiÃe die Bücher aus dem Regal, schleudere sie alle hinaus aus dem Loch und versuche dann, so tief wie möglich in das Eis hinter dem leeren Bord vorzudringen. Den Wilkes finde ich nach wenigen Sekunden. Vorsichtig schabe ich um das Buch herum und lege es frei. Es liegt Deckel an Deckel mit einem anderen, einem gelbroten, auf dessen Rücken ich schon die Jahreszahl erkenne.
oh  al  ny
E    ecku  en  it d    IZA S  TT und d  S    NA
1839  m a  arkti    n O   Â
1839, das muss es sein! Ich kratze die weiÃe Kruste ab, hauche und sehe zu, wie die Buchstaben durchs Eis zu schimmern beginnen.
John Balleny
Entdeckungen mit der ELIZA SCOTT und der SABRINA
1839 im antarktischen Ozean
10
28 Fische für das Lager der Geduld
E iner, der von der Scholle rutscht und in das drei Grad kalte Wasserloch fällt, wo Käptân Worsley seine Tiefenlotung vornimmt, der weià noch, was die Zeit ist, denn der spürt am eigenen Leib, wie furchtbar langsam sie vergeht. Vierzehn Tage brauchen die Klamotten, um zu trocknen.
Tagein, tagaus liege ich auf meiner sich allmählich auflösenden Matte im Zelt und klammere mich an das Buch. Im Halbkreis sitzen sie um mich herum, Clark, Hussey, Bakewell, schwarze, ausgemergelte und langhaarige Gestalten mit Zahnschmerzen und Frostbeulen. Sie erzählen sich Witze, denken sich Lieder aus und erfinden Kochrezepte, und diese Geisterspeisen, die unser Zelt zur Attraktion machen, so dass jeder einmal hereinschneit und einen Happen Wörter kostet, sie werden fetter, sahniger, süÃer mit jedem Tag.
Kommt Vincent herein, heiÃt es schnell den Buchrücken zudecken, damit er nicht sieht, was ich lese. Dann nutze ich die Gelegenheit, um mir die Beine zu vertreten, stopfe das Buch in den Hosenbund und gehe vors Zelt. War sein GroÃvater wirklich dabei, als Käptân John Balleny, ohne es zu ahnen, die Durchfahrt
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