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Der eiskalte Himmel - Roman

Der eiskalte Himmel - Roman

Titel: Der eiskalte Himmel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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Überleben brauchen, von Bord gerettet, nur unser Schiff, das haben wir nicht retten können, das ist untergegangen. Einen seltsamen Anblick bietet das neue Lager: Es sieht wie ein Schiff ohne Schiff aus. Denn es ist alles da: Deckshaus, Kombüse, Schornstein, Boote, Mast. Macks Hunde liegen faul in der Gegend herum, wie sie es an Deck getan haben, und wir gehen weiter unseren kleinen und großen Beschäftigungen nach. Auch wenn uns Shackleton mit Einfühlungsvermögen und Überzeugungskraft auf die Zelte verteilt hat, so bilden doch wie an Bord Matrosen, Heizer und Maschinisten eine Gruppe, eine zweite die Ärzte, Forscher und Künstler und eine dritte die Chefs, der Skipper, die Offiziere und Eisheiligen. Und genauso sind Green, der miesepetrige Koch, und ich, sein verbummelter Steward, eine Klasse für sich: Wir kochen für alle, bringen allen das Essen. Es ist kein Geisteressen bloß aus Wörtern, es ist echt, das heißt, es schmeckt zwar scheußlich, aber es hält uns am Leben. Ab und an gibt es Hund, und nicht alle bringen es übers Herz, sich ein Stück von Sailor oder Shakespeare zwischen die Zähne zu schieben. Ansonsten aber ist es das gleiche Essen wie auf dem Schiff, nur mit dem Unterschied, dass es das Schiff nicht mehr gibt.
    Als ich ein Junge war, wurde in Pillgwenllys Nachbarort Mynyddislwyn die alte Bethel-Kirche abgerissen, um die Newporter Docks auszubauen. Ich erinnere mich an das verwirrende Gefühl, wenn ich über den einen ganzen Sommer lang brachliegenden Platz rannte: Mit der Kirche schien dort auch die Zeit verschwunden zu sein. Besonders der eingeebnete Friedhof am Uskufer, über den der heiße Wind strich, kam mir wie ein Zeitloch vor, in dem jede Stimmung unbegrenzt anhielt, ob ich traurig war oder froh. Zwischen den Ligustersträuchen zogen Regyn und ich uns nackt aus. Und die Krebse, die wir aus dem Fluss holten, wirkten mit ihren roten Stiefeln wie Räuberhauptmänner.
    Den Gestank des Ligusters und den Geschmack der wilden Erdbeeren auf der Uferböschung haben wir nie mehr vergessen, auch dann nicht, als uns die Erinnerung an Mynyddislwyn peinlich geworden war. Sosehr zumindest Regyn sich wünschte, die Zeit ausradieren zu können, das Gefühl aus diesem Sommer verging nicht, weder bei mir noch bei ihr.
    Wenn die Zeit stillzustehen scheint, ist man von der Zukunft abgeschnitten. Man rettet sich dann entweder von Augenblick zu Augenblick, indem man wartet und hofft, dass einer gewillt ist, die Zeit mit dir zu teilen, oder aber man träumt sich in die Vergangenheit zurück, zu den Süßspeisen, den Erdbeeren, rot wie die Stiefel der Flusskrebse, oder zu einem Schiffsjungen namens Smith. Damals, als das Kind, das ich war, bedeutete mir die Gegenwart nichts. Ich spürte bloß, die Zeit steht still, und war nicht einmal verblüfft. Im Eis aber gibt es kaum Schlimmeres, als zu spüren, wie die ohnehin verlangsamte Zeit ins Stocken gerät und gefriert. Deshalb notieren diejenigen, die auf der ENDURANCE Tagebuch führten, im Lager jedes Wort und jedes Zipperlein ihrer Schlafsackgenossen. An den Zeltstangen baumeln mit lauter seltsamen Zeichen versehen die Kalender, die die Evakuierung überstanden haben, und Wild und Worsley lassen es sich nicht nehmen, weiterhin täglich exakt Position, Lottiefe und Tempo unserer Scholle ins Logbuch einzutragen. Ein dicker Tintenstrich teilt das Buch in ein Vorher und Danach: Hier ging sie unter!
    So vergeht der Dezember. Die Adventssonntage schmelzen zu einem einzigen Nachmittag zusammen, an dem es viermal Robbenbraten und Pinguinpudding gibt. Und jedes Mal spielen die Geisterköche danach in meinem Zelt ein Wissensquiz mit denselben paar aus der Enzyklopädie herausgetrennten Seiten, die Hurley zur Polsterung der Negative in die Blechkanister gestopft und so vor dem Eis bewahrt hat: Was heißt »Ormolu«? Wo liegt »Ormoc«? Und eben sind das weihnachtliche Robbenragout und die Pinguinpastete aufgefuttert, als Bob Clark die entscheidenden Hinweise im kniffligsten der Rätsel erfragt: Wer war »Eleanor A. Ormerod«?
    Â»War sie Wissenschaftlerin?«
    Â»Ja«, sagt Jimmy James.
    Â»Wusst ich’s doch! Biologin?«
    Â»Ja«, sagt Jimmy James.
    Â»Ha! Erforschte sie nicht die Saurier?«
    Gerechtigkeit widerfährt Mrs. Ormerod am Silvesterabend: Sie war nicht nur Insektenforscherin, sie war die Naturforscherin schlechthin, ja, liest

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