Der Eisplanet
geblendet.
»Unglaublich«, sagte er leise. »Geradezu unglaublich ... Was für ein Licht ist das?«
»Eine Atomlampe. Sie befindet sich auf einem dreihundert Meter hohen Pfeiler. Die Lichtstärke läßt sich regulieren. Möchtest du eine hellere Beleuchtung?«
»Nein, danke. Noch nicht. Es gibt schon sehr viel zu sehen ... unglaublich schön und wunderbar. Ich habe eine Art von Mondlandschaft erwartet – nichts als Felsen und Staub, Berge und Krater. Statt dessen sehe ich Wolken und Seen. Kommt es womöglich auch zu Schnee- und Regenfällen?«
Sie lachte. »Ja, Idris, Schnee und Regen fallen auch. Es gibt auch Stürme. Die Atmosphäre besteht aus Helium. Die Wolken bestehen aus Wasserstoff. Bei leichten Temperatur- und Druckveränderungen schlagen sie sich als Wasserstoffschnee oder -regen nieder.«
»Dann sind die Seen Wasserstoffseen?«
»Ja. Die Oberflächentemperatur beträgt ungefähr siebzehn Grad Kelvin. Du kennst die Gradeinteilung nach Kelvin?«
»Kelvin war ein Mensch der Erde«, antwortete er lachend. »Also liegt die Oberflächentemperatur von Minerva lediglich siebzehn Grad über dem absoluten Nullpunkt. Und dieser Eisplanet ist die letzte Zuflucht der Menschheit. Dagegen muß etwas getan werden.«
»Dagegen gibt es nichts zu tun.«
»Doch.« Er streckte einen Finger aus. »Woraus sind diese prächtigen Kristallformationen?«
Zylonia trat näher und schaute in die gewiesene Richtung. »Wahrscheinlich solider Sauerstoff. Stickstoffgestein ist gewöhnlich kleiner und reflektiert weniger Licht.«
»Ich verstehe nicht. Was ist das?«
»Es stammt aus einem alten Märchen der Erde, meine Liebe. Geschrieben von einem Mann namens Hans Christian Andersen, wenn ich mich recht entsinne ... Ein junger Mann fand den Palast der Eisprinzessin. Sie hielt ihn gefangen, indem sie eine Nadel aus Eis in sein Herz stieß. Aber seine Jugendfreundin folgte ihm und brachte das Eis mit ihrer Liebe zum Schmelzen. Die beiden kehrten in ihre Heimat zurück.«
»Hoffentlich wurden sie für immer glücklich.«
»Natürlich. So war es in Märchen üblich. In meinem Herzen steckt keine Nadel aus Eis. Ich werde in meine Heimat zurückkehren. Ich weiß es.«
Sie ergriff seine Hand. »Armer Idris. Wer könnte dir vorwerfen, daß du in unverwirklichbare Träume fliehst? Doch sprich darüber nicht zu anderen Minerviern. Es würde sie beunruhigen.«
»Beunruhigen! Schön gesagt.« Grimmig lachte er auf. »Der Rest der Menschheit vegetiert auf dem zehnten Planeten dahin und darf nicht beunruhigt werden!«
»Du weißt, wie ich es meine.«
»Ja, ich weiß es. Es ist ein Axiom Talbots, daß die Erde endgültig untergegangen ist. Aber daran glaube ich nicht.«
»Idris, die historischen Tatsachen sind dir bekannt.«
»Fünftausend Jahre sind eine lange Zeit. Tatsachen verändern sich. Vor fünftausend Jahren war ich tot. Jetzt lebe ich.«
Sie zitterte. »Ich friere. Diese tote Welt dort draußen scheint ihre Kälte in mein Bewußtsein zu projizieren. Laß uns gehen. Du hast die Oberfläche gesehen, wie ich dir versprach.«
»Gewähre mir noch fünf Minuten, Zylonia. Für dich ist die Oberfläche furchterregend, für mich dagegen wunderschön. Ich begreife, warum ein Teil der Marsflüchtigen Kuppelstädte bauen wollte. Daß sie scheiterten, ist tragisch. Hätten sie Erfolg gehabt, wäre die minervische Geschichte anders verlaufen. Ein Leben unter den Sternen hätte die Menschen daran gemahnt, daß ihre Bestimmung sich nicht auf einer öden Welt erfüllt. Und nun fürchten die Minervier sich vor offenem Himmel, haben eine Maulwurfsmentalität entwickelt.«
»Was ist ein Maulwurf?«
»Ein kleines, fast blindes Pelztier der Erde. Es lebt unter dem Boden und gräbt Tunnelsysteme.« Er lachte. Angestrengt starrte er durch die drei Schichten von Plastikglas. Zylonias Abneigung war verständlich. Minervas Oberfläche war tödlich – aber auch eine große Herausforderung. Und sie war auf seltsame Weise schön. Er vermochte sie sich erfüllt von Licht und Leben vorzustellen. Kuppelstädte, Raumhäfen – eine dynamische, sich erneut über das ganze Sonnensystem ausbreitende Zivilisation. Doch die Minervier hatten innerhalb von dreitausend Jahren nur eine Untergrundkultur, ein Nullbevölkerungswachstum und eine pathologische Furcht vor Veränderungen erlangt.
»Nun gut, Zylonia. Kehren wir um, hinab in die Gemeinde der Maulwürfe. Aber eines Tages werde ich euch alle nach draußen treiben, bevor Talbots hirnrissiges Testament euch
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