Der Eisplanet
den letzten Rest von Wagemut ausgelöscht hat.«
7.
Der Rhythmus der M-Tage wurde in Minervas unterirdischen Städten einfach durch entsprechende Dämpfung und Erhellung der Lichtquellen geregelt. Die meisten Minervier beachteten die Konventionen von Tag und Nacht aus praktischen Gründen. Doch abgesehen von der Notwendigkeit von Schichtarbeit und permanenter Kontrolle lebenswichtiger Maschinerie wie Atomgeneratoren, Klimaanlagen, Recyling-Einrichtungen und hydroponische Fabriken, gab es einige Minervier, die ein Leben bei Nacht vorzogen. Vorwiegend handelte es sich um Dichter, Künstler, Sozialkritiker und ähnliches, wie Idris sich vergewisserte.
Die fünf Städte trugen die Namen Talbot, Vorshinski, Aragon, Brandt und Chiang. Sie waren nach den hervorragendsten Führern der ursprünglichen Siedler benannt und jeweils etwa fünf Kilometer voneinander entfernt. Der interstädtische Verkehr wurde mit Einschienenfahrzeugen abgewickelt. Es gehörte zu den Gewohnheiten der minervischen Kritiker, sich in diesen Fahrzeugen zu nächtlichen Diskussionen, Feierlichkeiten und Protestkundgebungen zu versammeln, die bis in den Morgen währten. Schließlich gelang es Idris, mit einer Gruppe dieser Leute in Kontakt zu treten, die mit der Art des minervischen Lebens unzufrieden waren. Er hoffte darauf, sie zu zielgerichteten Aktionen bewegen zu können, die sich eigneten, um die jahrhundertealten erstarrten Formen der minervischen Zivilisation zu erschüttern.
Vorerst jedoch widmete er der Aufgabe, mit den Einzelheiten dieser Zivilisation eingehend vertraut zu werden, sehr viel Zeit. Obendrein mußte er ein ermüdendes Programm von Interviews und Diskussionen mit Historikern, Soziologen, Psychologen, Anthropologen und anderen an ihm und der Erde interessierten Personenkreisen über sich ergehen lassen. Er beantwortete ihre Fragen geduldig und nach bestem Wissen, wobei er sich bemühte, der Menschheit Gerechtigkeit zu tun, ohne etwas zu beschönigen.
Für eine Weile blieb Zylonia seine ständige Begleiterin. Sie zeigte ihm die fünf Städte. Die Vielzahl von Minerviern, denen er auf seinen Rundfahrten begegnete, kannte ihn bereits von ihren TV-Schirmen. Man hatte auch schon eine Dokumentation über das gesamte Unsterblichkeitsprojekt ausgestrahlt, angefangen bei der Bergung der Dag Hammarskjöld (wie Idris erfuhr, befand das Schiff sich in einer Kreisbahn um den Planeten, um eventuell später als wertvolles Museumsstück unter die Oberfläche gebracht zu werden), über die verschiedenen Stufen seines Restaurierungsprozesses bis zu der Zeit, als er ein Gehirn in einem Behälter war und Zylonia sein Rettungsanker. Das Unsterblichkeitsprojekt bestimmte gegenwärtig den Inhalt aller philosophischen und politischen Gespräche. Erstmals in der menschlichen Geschichte war bewiesen worden, daß die Vergänglichkeit des organischen Versorgungssystems, des Körpers, nicht zwangsläufig in den Tod der Persönlichkeit münden mußte. Vorausgesetzt, das Hirn erhielt nach jedem Körperverschleiß einen neuen Zuchtkörper, gab es für die Dauer der Persönlichkeitsexistenz keine Grenzen außer denen, die das Hirn als Organ des Bewußtseins selbst auferlegte. Anders ausgedrückt, die physische Altersschwäche war besiegt. Zu überwinden blieb noch die mentale Altersschwäche – der Zusammenbruch überlasteter Neuronensysteme.
Dr. Manfrius de Skun, dem es gelungen war, Idris Hamilton von den Toten zu erwecken, war plötzlich einer der wichtigsten, einflußreichsten und meistumstrittenen Männer des Planeten. Die TT-Partei schloß ihre Reihen und verschrie ihn als satanischen Versucher, der die Reinen mit dem Versprechen eines verlängerten Lebens verlocken wolle. Die liberaler gesonnenen Minerver sahen in ihm einen Wohltäter, der entdeckt hatte, wie sich der Anbruch der immerwährenden Nacht hinauszögern ließ. Das Ergebnis der Auseinandersetzung hing vollständig davon ab, ob sich Dr. de Skuns Meerschweinchen – Kapitän Idris Hamilton – als geistig absolut gesundes Individuum erweisen würde. Die Gegner des Projekts hofften, daß sich genug Abweichungen vom Normalverhalten – vom minervischen Normalverhalten – zeigen würden, um Symptome einer unterschwelligen Instabilität nachweisen zu können.
Im Verlauf seiner zahlreichen Gespräche mit Minerviern lernte Idris die Befürworter des Projekts bald von den Gegnern zu unterscheiden, obwohl beide Seiten sich ihm gegenüber gleichmäßig und beinahe langweilig freundlich
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