Der Engel Esmeralda
sanft herniedersinkt. Vollmer behauptet, er kann sich an besondere Augenblicke erinnern, Tonfälle der Komik, das Fettsacklachen des Ansagers. An einzelne Stimmen, die aus dem Gelächter des Studiopublikums hervorstechen, das Gackern eines Geschäftsmannes aus St. Louis, das dreiste Aufjaulen einer hochschultrigen Blondine, frisch in Kalifornien eingetroffen, wo die Frauen dieses Jahr ihr Haar in duftenden Ballen tragen.
Vollmer treibt kopfüber durch die Offiziersmesse, einen Mandelriegel kauend.
Manchmalschwebt er ohne Hängematte herum, schläft embryonal zusammengerollt, stößt gegen Wände, bleibt an einer Ecke des Deckengitters hängen.
»Moment, ich komm gleich auf den Namen«, sagt er im Schlaf.
Er sagt, er träumt von vertikalen Räumen, von denen aus er als Junge etwas anschaut – irgendetwas. Meine Träume sind eher von der lastenden Sorte, aus denen das Erwachen, das Auftauchen schwerfällt. Sie sind stark genug, mich wieder nach unten zu ziehen, intensiv genug, um mich mit dumpfem Kopf zurückzulassen, wie unter Drogen und aufgebläht. Manchmal kommt es auch zu vorübergehender, gesichtsloser Genugtuung, was ein bisschen verstörend ist.
»Fast unglaublich, wenn man es recht bedenkt, wie die da in Eis und Sand und bergiger Wildnis leben. Guck dir das mal an«, sagt er. »Riesige öde Wüsten, riesige Ozeane. Wie ertragen sie all diese furchtbaren Dinge? Schon allein die Überschwemmungen. Schon allein die Erdbeben, wer da lebt, muss verrückt sein. Guck dir mal die Systematik der Verwerfungen an. So groß sind sie und so zahlreich. Schon allein die Vulkanausbrüche. Was könnte beängstigender sein als ein Vulkanausbruch? Wie ertragen sie Jahr für Jahr Lawinen, mit abstumpfender Regelmäßigkeit? Kaum zu glauben, dass da Menschen leben. Schon allein die Überschwemmungen. Du kannst große farblos gewordene Gebiete erkennen, alles weggeflutet, weggeschwemmt. Wie überleben die, wo gehen sie hin? Guck dir mal an, wie sich die Wolken aufbauen. Guck dir dieses wirbelnde Auge des Sturms an. Was ist mit den Menschen, die auf dem Weg eines solchen Sturms leben? Dermuss doch unglaubliche Windstärken huckepack haben. Schon allein die Blitze. Menschen, die am Strand sind, ungeschützt, in der Nähe von Bäumen und Telefonmasten. Guck dir mal die Städte an, mit ihren Lichtermeeren, die sich in alle Richtungen ausdehnen. Versuch dir mal das Verbrechen und die Gewalt vorzustellen. Guck dir die tief hängende Rauchwolke an. Was bedeutet das in Bezug auf Atembeschwerden? Verrückt. Wer will da leben? Die Wüsten, wie sie vorrücken. Jedes Jahr erobern sie mehr und mehr urbares Land. Wie immens diese Schneefelder sind. Guck dir mal die massiven Sturmfronten über dem Meer an. Da unten fahren Schiffe, auch kleinere. Versuch dir mal die Wellen vorzustellen, wie das schaukelt. Schon allein die Wirbelstürme. Die Flutwellen. Guck dir mal die Küstengemeinden an, die Flutwellen ausgesetzt sind. Was könnte beängstigender sein als eine Flutwelle? Aber sie leben dort, sie bleiben dort. Wo können sie schon hin?«
Ich möchte mit ihm über Kalorienzufuhr sprechen, die Wirksamkeit der Ohrstöpsel und der Mittel zum Abschwellen der Nasenschleimhäute. Die Ohrstöpsel sind kleine Menschlichkeiten. Apfelwein und Brokkoli sind kleine Menschlichkeiten. Vollmer selbst ist eine kleine Menschlichkeit, und nie so sehr, als wenn er vergisst, dass wir Krieg haben.
Das kurz geschorene Haar und der längliche Kopf. Die sanften blauen Augen, die leicht vorstehen. Die Basedowaugen langgliedriger Menschen mit hängenden Schultern. Die langen Hände und Handgelenke. Das sanfte Gesicht. Das einfache Gesicht eines Handwerkers in einem Kastenwagen mit Ausziehleiter auf dem Dach und verschrammtem grün-weißenNummernschild, Motto des Staates unter den Zahlen. Die Sorte Gesicht.
Er bietet an, mir die Haare zu schneiden. Wie interessant so ein Haarschnitt ist, wenn man recht darüber nachdenkt. Vor dem Krieg gab es ein Zeitkontingent für solche Dinge. Houston hatte nicht nur alles mit langem Vorlauf eingetaktet, sondern kontrollierte uns darüber hinaus ständig, egal wie spärlich das Feedback war. Wir wurden verkabelt, aufgenommen, gescannt, diagnostiziert und vermessen. Wir waren Männer im Weltraum und damit gewissenhaftester Zuwendung wert, tiefster Gefühle und Besorgnisse.
Jetzt herrscht Krieg. Keinen kümmern meine Haare, was ich esse, wie ich die Inneneinrichtung des Raumschiffs finde, und wir stehen nicht mit Houston, sondern
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