Der Engel Esmeralda
entgegenkommenden Leuten etwas zu, ohne zu begreifen, dass die um ihre Notlage wussten. Jetzt standen sie um die Decke herum, und der Läufer sah ihre beruhigenden Gesten. Die Stimme der Frau war rau und schwerfällig, mit dem atemlosen Stottern einer Sprachbehinderung. Er verstand nicht, was sie sagte.
Am Fuß einer sanften Steigung war der Pfad weich und feucht. Der Vater blickte zu der abschüssigen Wiese, eine Hand offen ausgestreckt, die Kleine suchte sich Brotbrocken aus und wandte sich dem Geländer zu, die Gesichtszüge in Vorbereitung des Wurfs angespannt. Der Läufer näherte sich der Brücke. Einer der Männer neben der Decke lief zum Pfad hinunter und trabte dann auf die Stufen Richtung Straße zu. Er hielt eine Hand auf der Hosentasche, um irgendetwas am Wegfliegen zu hindern. Die Kleine wollte, dass ihr Vater ihr beim Brotwerfen zuschaute.
Zehn Schritte hinter der Brücke sah der Läufer eine Frau schräg auf sich zukommen. Sie hielt den Kopf schief, in der erwartungsfrohen Haltung eines Touristen, der nach dem Weg fragen will. Er bremste ab, aber nicht völlig, und drehte sich allmählich, sodass sie weiter Blickkontakt hatten, während er langsam rückwärts den Pfad entlanglief, die Beine immer noch im typischen Läufertrappeln.
Sie sagte freundlich: »Haben Sie gesehen, was passiert ist?«
»Nein. Eigentlich nur das Auto. Ungefähr zwei Sekunden lang.«
»Ich habe den Mann gesehen.«
»Was ist passiert?«
»Ich ging mit meiner Freundin los, die hier gleich gegenüber wohnt. Wir hörten das Auto, als es über den Bordstein fuhr.Praktisch rumms auf die Wiese. Der Vater steigt aus und schnappt sich den kleinen Jungen. Keiner konnte schnell genug reagieren. Sie steigen ein, und weg sind sie. Ich sagte bloß: ›Evelyn.‹ Sie lief gleich zum Telefon.«
Er lief jetzt auf der Stelle, und sie kam näher heran, eine Frau mittleren Alters mit einem unwillkürlichen Lächeln.
»Ich kenne Sie aus dem Fahrstuhl«, sagte sie.
»Woher wissen Sie, dass das sein Vater war?«
»Es passiert doch überall, oder? Sie kriegen Kinder, bevor sie bereit dafür sind. Sie wissen nicht, auf was sie sich einlassen. Ein Problem nach dem anderen. Und dann trennen sie sich, oder der Vater kriegt Schwierigkeiten mit der Polizei. Erleben wir das nicht die ganze Zeit? Er ist arbeitslos, er nimmt Drogen. Eines Tages beschließt er, dass er einen Anspruch darauf hat, sein Kind öfter zu sehen. Er will geteiltes Sorgerecht. Er brütet tagelang vor sich hin. Dann kommt er vorbei, und sie streiten sich, und er demoliert die Möbel. Die Mutter besorgt sich eine einstweilige Verfügung. Er muss sich fernhalten vom Kind.«
Sie sahen zu der abschüssigen Wiese hinüber, wo die Frau gestikulierend auf der Decke stand. Eine andere Frau hielt ihre Sachen, einen Pullover, eine große Stofftasche. Ein Hund sprang unten beim Pfad einzelnen Möwen hinterher, die kurz aufflogen und ein Stück weiter wieder landeten.
»Schauen Sie nur, wie dick sie ist. Das erleben wir immer häufiger. Junge Frauen. Sie können nicht anders. Das hat mit der Veranlagung zu tun. Wie lange wohnen Sie schon im Haus?«
»Vier Monate.«
»In manchen Fällen gehen sie einfach rein und fangen an zu schießen. Wilde Ehe. Da kann man nicht einfach ein Elternteilabtrennen und erwarten, dass das so funktioniert. Ist ja schwer genug, ein Kind aufzuziehen, wenn man die Mittel dazu hat.«
»Aber sicher sind Sie nicht, oder?«
»Ich habe sie beide gesehen und das Kind.«
»Hat sie irgendwas gesagt?«
»Keine Chance. Er hat sich den Jungen geschnappt und ist ins Auto. Ich glaube, sie war vollkommen erstarrt.«
»War noch jemand im Auto?«
»Nein. Er hat den Jungen auf den Sitz gestoßen, und dann waren sie schon weg. Ich hab alles gesehen. Er wollte geteiltes Sorgerecht, und die Mutter hat es verweigert.«
Sie war beharrlich, blinzelte gegen das Sonnenlicht, und der Läufer erinnerte sich, ihr mal in der Waschküche begegnet zu sein, wo sie mit dem gleichen benommenen Gesichtsausdruck ihre Wäsche zusammenlegte.
»Na schön, wir haben also eine leidgeprüfte Frau in schlimmem Zustand vor uns«, sagte er. »Aber eine wilde Ehe sehe ich nicht, keinen Lebensgefährten, keine Trennung und keine einstweilige Verfügung.«
»Wie alt sind Sie?«, fragte sie.
»Dreiundzwanzig.«
»Dann haben Sie keine Ahnung.«
Die Schärfe in ihrer Stimme überraschte ihn. Er lief weiter auf der Stelle, unvorbereitet, tropfend, aufsteigende Hitze in der Brust. Ein Polizeiwagen kam
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