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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Massenverweigerung, einer Verwüstung. Nach einer Weile ließ er nach, dann baute er sich wieder auf. Sie sah Leute, die auf Bänken schliefen, und Familien, die sich in parkenden Autos auf dem Bürgersteig oder dem Mittelstreifen zusammengefunden hatten. Sie rief sich alles ins Gedächtnis, was sie je über Erdbeben gehört hatte.
    Inihrem Bezirk waren die Straßen mittlerweile fast leer. Sie betrat ihr Gebäude und nahm die Treppe bis in den vierten Stock. In ihrer Wohnung brannten die Lichter, und beim Bücherregal lagen (das fiel ihr erst jetzt wieder ein) Terracottascherben auf dem Boden. Lange Risse verästelten sich an der Westwand. Sie zog sich Laufschuhe an, eine gefütterte Skijacke und löschte alle Lichter bis auf eine Lampe an der Tür. Dann legte sie sich aufs Sofa, zwischen ein Laken und eine Decke, den Kopf auf einem Flugzeugkissen. Sie schloss die Augen und rollte sich ein, Ellbogen an der Taille, Hände zwischen den Knien zusammengepresst. Sie versuchte, sich zum Schlafen zu zwingen, merkte aber, dass sie aufmerksam lauschte, dem Zimmer lauschte. Sie lag da in einer Art zeitlosem Treiben, unermüdlichem Schleifen des Geistes, vorangetrieben von halb geformten Gedanken. Sie fiel in einen Scheinschlaf, dann lauschte sie wieder. Sie schlug die Augen auf. Die Uhr zeigte vier Uhr vierzig an. Sie hörte etwas, das wie das Ausschütten von Sand klang, ein Rieseln körnigen Staubs zwischen den Mauern aneinandergrenzender Bauten. Das Zimmer fing an, sich mit einem knirschenden Seufzen zu bewegen. Lauter, energisch. Sie sprang aus dem Bett und zur Tür, in leicht geduckter Haltung. Sie öffnete die Tür und stellte sich unter den Türsturz, bis das Beben aufhörte. Sie nahm die Treppe nach unten. Diesmal keine Nachbarn, die aus den Türen stürmten, ihre Arme hastig in Mäntel wanden. Die Straße war immer noch fast leer, und sie vermutete, die Leute hatten keine Lust, das Ganze noch mal mitzumachen. Sie streifte bis lange nach Tagesanbruch umher. Ein paar Lagerfeuer brannten in den Parks. Das Hupen kam jetzt nur noch sporadisch. Sie umrundete ihr Haus mehrere Male und setzte sich schließlich auf eine Bankneben dem Zeitungskiosk. Sie sah Leute auf die Straße treten, um ihren Tag zu beginnen, und suchte in ihren Gesichtern nach etwas, das ihr sagen würde, was für eine Nacht sie verbracht hatten. Sie hatte Angst, alles könnte ganz normal erscheinen. Sie ertrug den Gedanken nicht, die Leute würden problemlos den Laissez-faire-Alltag des zerrissenen Athens wieder aufnehmen. Sie wollte nicht allein mit ihrer Wahrnehmung sein, dass sich etwas grundlegend geändert hatte. Die Welt hatte sich verengt auf innen versus außen.
    Sie aß mit Edmund zu Mittag, einem Kollegen von der kleinen Schule, wo sie die Kinder der internationalen Gemeinde in Musik unterrichtete, dritte bis sechste Klasse. Sie wollte unbedingt hören, wie er auf die Situation reagiert hatte, überredete ihn aber zuerst, draußen zu essen, an einem Tisch, der vor der Fassade einer belebten Snackbar stand.
    »Wir könnten auch hier getötet werden«, sagte Edmund, »von einem herabstürzenden Balkon. Oder weil wir auf unseren Stühlen erfrieren.«
    »Wie ist es dir ergangen?«
    »Ich dachte, das Herz springt mir gleich aus der Brust.«
    »Gut. Ich auch.«
    »Ich bin geflüchtet.«
    »Klar.«
    »Auf dem Weg die Treppe runter hatte ich ein äußerst merkwürdiges Gespräch mit einem Mann, der auf dem Gang gegenüber wohnt. Ich meine, bisher hatten wir kaum ein Wort miteinander gewechselt. Zwei Dutzend Leute trampelten die Treppe runter. Und plötzlich will er reden. Fragt mich, wo ich arbeite. Stellt mir seine Frau vor, die in dem Momentan den Einzelheiten meines Arbeitsplatzes herzlich wenig Interesse hatte. Und er fragt mich, ob ich gern in Griechenland lebe.«
    Der Himmel hing tief, grau. Die Leute riefen sich etwas auf der Straße zu, grölten es aus den vorbeifahrenden Autos. Eksi komma eksi. Sie meinten das Erste, das Größere. Sechs Komma sechs. Kyle hörte die Zahl schon den ganzen Vormittag, ehrfürchtig ausgesprochen, sorgenvoll, grimmig-stolz, ein Widerhall in den grübelnden Straßen, eine Art fatalistischer Gruß.
    »Und dann?«, fragte sie.
    »Das Zweite. Ich bin wenige Sekunden vorher aufgewacht.«
    »Du hast etwas gehört.«
    »So was wie ein Kind, das eine Handvoll Sand gegen die Fensterscheibe wirft.«
    »Sehr gut«, sagte sie.
    »Dann ging es los.«
    »Aber richtig.«
    »Peng. Ich bin aus dem Bett gehechtet wie ein

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