Der Engel Esmeralda
Stunde.
Sie lief den größten Teil der Nacht weiter. Um drei Uhr früh blieb sie auf dem Platz vor dem Olympiastadion stehen. Autos parkten dort und Menschen hatten sich in Gruppen versammelt, und sie musterte die Gesichter und lauschte. Der Verkehr zog langsam vorbei. Es herrschte eine seltsame doppelbödige Stimmung, eine einsame Nachdenklichkeit im Kern all des Redens, so als wären die Menschen halb abwesend bei ihrer eifrigen Suche nach Gesellschaft. Sie setzte sich wieder in Gang.
Als sie um neun Uhr in ihrer Wohnung frühstückte, spürte sie das erste signifikante Nachbeben. Das Zimmer legte sich merklich schräg. Sie stand mit feuchten Augen auf, öffnete die Tür und kauerte sich hin, ein gebuttertes Brötchen in der Hand.
Falsch. Das Letzte war nicht das Größte auf der Richterskala. Es war nur sechs Komma zwei gewesen.
Und sie fand heraus, dass es nicht länger als die anderen gedauert hatte. Das war eine Massenillusion, hieß es an der Schule.
Und das Wasser, das sie gesehen oder gespürt hatte, war nicht aus einem gebrochenen Rohr gekommen, sondern aus einem umgekippten Glas vom Tisch neben dem Sofa.
Und warum passierten sie immer nachts?
Undwo war der englische Junge?
Das Wasserglas war heil, aber ihr Taschenbuch über die Pflanzen der Gegend war feucht und krumpelig.
Sie nahm die Treppe, nach unten und nach oben.
Sie behielt ihre Stofftasche griffbereit an der Tür.
Sie hatte jegliche Gefühle, Ansprüche, Erwartungen und Konsistenz verloren.
Das Gnadenlose war die Zeit, die Bedrohung der voranschreitenden Zeit.
Sie hatte jegliche Annahmen, Überzeugungen, Komplikationen, Lügen und jede andere Verflechtung, mit der man sich arrangiert, um leben zu können, verloren.
Halt dich von Kinos und überfüllten Hallen fern. Sie war angelangt bei Kategorien des Klangs, bei Selbstermahnungen und endlosen inneren Überprüfungen.
Sie pausierte, allein, um zu lauschen.
Sie malte sich ihre sinnvolle Flucht aus dem Zimmer aus.
Sie suchte in den Gesichtern der Leute nach etwas, das ihr sagen könnte, ob sie dieselbe Erfahrung gemacht hatten wie sie, bis zu den kleinsten, seltsamsten Gedankenwindungen.
Es muss hier irgendetwas Witziges geben, das wir nutzen können, um die Nacht zu überstehen.
Sie hörte alles.
Sie machte Nickerchen in der Schule.
Sie verlor sogar die Stadt. Wir könnten überall sein, in jeder beliebigen Ecke von Ohio.
Sie träumte von einem Maifliegenweiher, auf dem abgefallene Blüten schwammen.
Nimm überall die Treppe. Einen Tisch nah am Ausgang in Cafés und Tavernen.
Die Kartenspieler saßen im tief hängenden Rauch, machtennur die nötigsten Bewegungen und schützten mit finsterem Blick, was sie auf der Hand hatten.
Sie erfuhr, dass Edmund mit Freunden im Norden war und Klöster inspizierte.
Sie hörte Motorräder am Berg aufheulen.
Sie untersuchte die Risse in der Westwand und sprach mit dem Vermieter, der die Augen schloss und seinen schweren Kopf wiegte.
Der Wind verursachte ganz in der Nähe ein Rascheln.
Nachts saß sie aufrecht mit ihrem Buch da, dessen Seiten vom Wasser steif gewellt waren, versuchte zu lesen und dem Gefühl zu entkommen, dass sie, ohne sich wehren zu können, auf einen bestimmten Augenblick in der Zeit zugetragen wurde, einen Absturz.
Der Akanthus ist ganzjährig und wuchert.
Alles auf der Welt ist entweder drinnen oder draußen.
Eines Tages stieß sie in einer Schreibtischschublade in der Schule auf die Statuette, die zwischen Hustenbonbons und Büroklammern lag, in einem Büro, das als Lehrerzimmer genutzt wurde. Sie konnte sich nicht mal mehr erinnern, sie dorthin gelegt zu haben, und spürte die vertrauten widerstreitenden Kräfte von Scham und Abwehr durch ihren Blutkreislauf rauschen – eine Körperhitze, die gegen den Vorwurf vergessener Dinge aufstieg. Sie nahm die Figur in die Hand und fand, dass die reine, offene Bewegung der Springerin etwas Bemerkenswertes hatte, die detaillierte Anspannung von Unterarmen und Händen. Sollte etwas so Altes nicht eine förmliche Haltung, eine gewisse Steifheit der Gestalt aufweisen? Dies war ein leichtes, fließendes Werk. Doch jenseits dieser Überraschung gab es wenig zu erfahren. Sie kanntedie Minoer nicht. Sie war sich nicht einmal sicher, woraus das Ding gemacht war, aus welcher Billigimitation von Elfenbein. Dann fiel ihr ein, dass sie die Figur im Schreibtisch verstaut hatte, weil sie nicht wusste, was sie damit tun sollte, wie sie sie abstützen sollte. Der Körper war allein im
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