Der Engel Esmeralda
zusammensuchen ließ. Das demonstrierte jedem, dass er nur auf Durchreise war.
»Du hast die Gerüchte gehört«, sagte sie.
»Unfug.«
»Die Regierung hält seismische Daten geheim.«
»Es gibt absolut keine wissenschaftlichen Beweise dafür, dass ein großes Beben bevorsteht. Lies die Zeitung.«
Sie zog die dicke Jacke aus und schwang sie über die Schulter. Er sollte, das ging ihr gerade auf, sie für etwas einfältig halten, als wäre sie fest im Griff der Massengefühle. Es hatte etwas Tröstliches, das Schlimmste für möglich zu halten, solange das der herrschenden Überzeugung entsprach. Aber ganzwollte sie sich dem doch nicht hingeben. Im Gehen fragte sie sich, ob Edmund sie wohl wegen ihrer eisernen Aussprüche, die sie gegen sich selbst ins Feld führen konnte, attraktiv fand.
»Hast du ein Innenleben?«
»Ich kann schlafen«, sagte er.
»Das meine ich nicht.«
Sie rannten über eine breite Straße, wo die Autos auf Renngeschwindigkeit beschleunigten. Sie mochte das Gefühl, sich aus ihrer schreckhaften Haut freizuschütteln. Sie lief einen halben Block weiter und drehte sich um, sie wollte ihn herankommen sehen, auf tatterigen Beinen, Hand auf der Brust, wie zur Gaudi für Kinder. Selbst wenn er Sprünge machte, sah er noch ein bisschen nach Bücherwurm aus.
Sie näherten sich dem Schulgebäude.
»Wie dein Haar wohl aussähe, wenn du es lang wachsen ließest?«
»Mehr Shampoo kann ich mir nicht leisten«, sagte sie.
»Ich kann mir einen regelmäßigen Haarschnitt nicht leisten, ganz im Ernst.«
»Ich lebe ohne Klavier.«
»Und das ist ein Elend, verglichen mit dem Leben ohne Kühlschrank?«
»Diese Frage kannst du stellen, weil du mich nicht kennst. Ich lebe ohne Bett.«
»Ist das wahr?«
»Ich schlafe auf einem Sofa vom Trödel. Der Bezug fühlt sich an wie ein muschelverkrusteter Schiffsrumpf.«
»Warum bleibst du dann?«
»Ich kann nicht genug sparen, um woanders hinzugehen, und ich bin auf keinen Fall bereit für zu Hause. Außerdem gefälltes mir hier. Ich bin hier irgendwie gestrandet, aber weitgehend freiwillig. Zumindest bis jetzt. Das Blöde an der jetzigen Situation ist, wir könnten überall sein. Es kommt nur darauf an, wo wir stehen, wenn es wieder zuschlägt.«
Da überreichte er ihr das Geschenk, zog es aus seiner Jackentasche und packte es mit neckisch inszeniertem Trommelwirbel aus dem sepiabraunen Papier aus. Es war die Nachbildung einer Elfenbeinstatuette aus Kreta, eines weiblichen Stierspringers, ein weit gestreckter Körper mit bandagierten Füßen kurz vor dem höchsten Punkt eines Saltos. Edmund erläuterte, dass die junge Frau im Begriff war, über die Hörner eines angreifenden Stiers zu springen. Das war eine in der minoischen Kunst verbreitete Szene, die in Bronzeskulpturen und auf Fresken, Tonsiegeln, goldenen Siegelringen und zeremoniellen Gefäßen vorkam. Ein Mann, meistens, manchmal auch eine Frau, packte die Hörner eines Stiers und schwang sich empor und hinüber, vom Kopfruck des Tieres geschleudert. Edmund sagte, die Original-Elfenbeinfigur sei 1926 auseinandergebrochen, und fragte, ob sie wissen wolle, wie das passiert sei.
»Sag’s mir nicht. Ich möchte raten.«
»Bei einem Erdbeben. Aber die Restauration war Routine.«
Kyle nahm die Figur in die Hand.
»Über einen Stier, der in vollem Galopp auf sie zustürmt? Ist das möglich?«
»Ich fühle mich nicht berufen infrage zu stellen, was vor sechsunddreißig Jahrhunderten möglich war.«
»Ich kenne die Minoer nicht«, sagte sie. »Liegt das so weit zurück?«
»Ja, und noch weiter, viel weiter.«
»Vielleicht wenn der Stier fest angebunden wäre.«
»Sowird es nie dargestellt«, sagte er. »Der Stier ist immer groß und wild und galoppiert und buckelt.«
»Müssen wir glauben, dass etwas genau so passiert ist, wie es die Künstler darstellen?«
»Nein. Aber ich glaube es. Und auch wenn diese Springerin hier ohne Stier daherkommt, wissen wir durch ihre Körperhaltung, dass sie gerade genau das tut.«
»Sie springt über den Stier.«
»Ja.«
»Und sie hat’s überlebt und kann davon erzählen.«
»Sie hat gelebt. Sie lebt noch. Deshalb habe ich das ja eigentlich für dich besorgt. Sie soll dich an deine verborgene Geschmeidigkeit erinnern.«
»Aber du bist doch der Akrobat«, sagte Kyle. »Du bist der mit den lockeren Gelenken, der auf der Straße auftritt.«
»Sie soll dich an dein fließend-beschwingtes früheres Ich erinnern.«
»Du bist der Springer und
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