Der Engel Esmeralda
Raum, ohne Stützkonstruktion, in keiner fixierten Position, und schien am besten für die Handfläche geeignet zu sein.
Sie stand in dem kleinen Zimmer und lauschte.
Edmund hatte gesagt, die Figur sei wie sie. Sie musterte sie, suchte nach dem leisesten Hauch von irgendetwas Wiedererkennbarem. Ein Mädchen mit Lendentuch und Armbändern und doppelreihiger Halskette, das über den Hörnern eines rasenden Stiers schwebte. Der Akt, der Sprung selbst, hätte ebenso gut Varieté wie heiliger Schrecken sein können. Diese Fünfzehn-Zentimeter-Statuette barg Themen und Geheimnisse und mythische Überlieferungen in sich, von denen Kyle keinen Schimmer hatte. Sie drehte den Gegenstand in der Hand. All die einfachen Parallelen verflüchtigten sich. Geschmeidig, jung, beschwingt, modern; donnernde Stiere und bebende Erde. Es gab nichts, das eine Verbindung zwischen ihr und dem Schöpfer dieses Kunstwerks hätte herstellen können, einem Elfenbeinschnitzer, 1600 v. Chr., angetrieben von Kräften, die ihr fernlagen. Sie erinnerte sich an den alten Ton-Hermes mit der Blumenkrone, der sie aus einer erfassbaren Vergangenheit anschaute, einer gemeinsamen Arena des Seins. Die Minoer befanden sich außerhalb all dessen. Schmale Taillen, Anmut, fremdes Denken – verloren jenseits von Sprachklüften und Magie, jenseits von Traumkosmologien. Das war das kleine Geheimnis dieser Figur. Sie war ein Gegenstand im Gegensatz, der definierte, was sie nicht war, und die Grenzen des Ichs markierte. Sie schloss festdie Faust um sie und meinte, die Figur mit weichem, regelmäßigem Puls an ihrer Haut pochen zu spüren, ganz irdisch.
Sie stand reglos da, hielt den Kopf schräg und lauschte. Busse rollten vorüber und schickten Dieselqualm durch die Ritzen im Fensterrahmen. Sie blickte in eine Ecke des Raums und konzentrierte sich fest. Lauschte und wartete.
Ihr Selbstgefühl endete, wo die Akrobatin begann. Als sie das einmal erkannt hatte, packte sie die Figur in die Tasche und nahm sie überallhin mit.
DERENGEL ESMERALDA
Die alte Nonne stand bei Tagesanbruch auf, alle Gelenke taten ihr weh. Sie war seit ihrer Zeit als Postulantin bei Tagesanbruch aufgestanden und hatte sich zum Gebet auf harte Holzböden gekniet. Zuerst zog sie die Jalousie hoch. Das ist die Welt da draußen, kleine grüne Äpfel und ansteckende Krankheiten. Licht fiel in Streifen in das Zimmer, tauchte die stoffartige Maserung des Holzes in ein antikes Ockerleuchten, das in Muster und Einfärbung einen solchen Genuss in ihr erweckte, dass sie den Blick abwenden musste, um nicht in mädchenhafte Schwärmerei zu verfallen. Sie kniete sich in die Falten des weißen Nachthemds, unendlich oft gewaschener Stoff, mit aufgeschäumter Seife geschlagen und dann knorplig und steif gelassen. Und der Körper darunter, dieses spindeldürre Ding, das sie durch die Welt trug, größtenteils kreidebleich, gesprenkelte Hände mit hervortretenden Adern, kurz geschorenes Haar, fein und flachs-grau, und ihre stahlblauen Augen – so manchem Jungen und Mädchen von einst erschienen diese Gucker im Traum. Sie bekreuzigte sich, murmelte die passenden Worte. Amen, ein gar altes Wort, aufs Griechische und Hebräische zurückgehend, wahrlich – sie berührte ihre Mitte, um das Kreuz in Körperform zu vervollständigen. Das Kürzeste der Alltagsgebete, und doch brachte es drei Jahre Ablass, sieben, wenn man die Hand in Weihwasser tauchte, bevor man den Körpermit dem Kreuz zeichnete. Das Gebet ist eine Strategie der Praxis, es verschafft einen zeitlichen Vorteil auf den Kapitalmärkten von Sünde und Vergebung.
Sie sprach ein Morgengebet und erhob sich. Am Waschbecken schrubbte sie sich die Hände mehrmals mit grober brauner Seife. Wie können die Hände sauber sein, wenn es die Seife nicht ist? Diese offene Frage blieb in ihrem Leben eine beharrliche Konstante. Und wenn man die Seife mit Bleichmittel reinigt, womit macht man dann die Bleichmittelflasche sauber? Wenn man diese mit Scheuerpulver bearbeitet, was nimmt man dann für die Ajaxdose? Bakterien haben Persönlichkeiten. Verschiedene Gegenstände beherbergen Bedrohungen unterschiedlicher, heimtückischer Natur. Und die Fragen wenden sich immer und ewig nach innen.
Eine Stunde später saß sie in Schleier und Habit auf dem Beifahrersitz eines schwarzen Kleinbusses, der den Schuldistrikt Richtung Süden verließ, an der Monsterschnellstraße aus Beton vorbei in die verlorenen Straßen vorstieß, schiere Vergeudung, ausgebrannte Häuser und
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