Der Engelspapst
Jetzt aber achtete er kaum auf Ilarias verführerischen Hüftschwung, als er ihr durch weitläufige Gänge folgte. Die Wände waren mit Fresken geschmückt, die im Glanz frischer Restaurierungen erstrahlten. Professor Orlandi musste gut betuchte Patienten haben.
Die blonde Frau, deren Alter er auf etwa fünfunddreißig schätzte, führte ihn in ein Ordinationszimmer, in dem moderne medizinische Apparate eine halbwegs gelungene Symbiose mit antiken Möbeln, großen Ölgemälden und schweren Brokatvorhängen eingingen. Die Fenster hinter den Vorhängen waren durch starke Gitterstäbe gesichert. Als Alexander versuchte, sich den Anblick der Klinik von außen zu vergegenwärtigen, erinnerte er sich, dass die Fenster, soweit er sie hatte sehen können, alle vergittert waren. Er hatte den Eindruck, sich im komfortabelsten Gefängnis der Welt zu befinden.
Schwester Ilaria sprach leise ein paar Worte in ein Telefon, dann säuberte sie vorsichtig sein Gesicht. Die sanfte Berührung ihrer Hände und der schwere Duft ihres Parfüms übten eine beruhigende Wirkung auf ihn aus. Er schloss die Augen, atmete tief durch und genoss Ilarias Nähe und Wärme. Der Wahnsinn der letzten Stunde fiel von ihm ab. Er hätte sich halbwegs entspannt gefühlt, hätten ihm nicht die Trauer um Papst Custos und die hämmernde Sorge um Elena auf der Seele gelegen.
«Willkommen in meinem Haus, Signor Rosin», sagte eine hohe, dünne Männerstimme und riss ihn aus dem kurzen Traum falscher Geborgenheit. «Ich bin Renato Orlandi.»
Die Nonchalance des hoch gewachsenen, dünnen Mittfünfzigers im altmodischen grauen Dreiteiler verblüffte Alexander. Donati war schweigsam gewesen wie eine Sphinx.
Der Professor und seine Schwester dagegen verhielten sich, als sei er mal eben zur Sprechstunde hereingeschneit. Sie mussten doch wissen, dass der Papst erschossen worden war und dass ihr Patient als Komplize des Mörders gesucht wurde.
Er ergriff die ausgestreckte Rechte des Professors und schüttelte sie matt. Der gescheiterte Versuch, den Papst zu beschützen, und die anschließende Flucht hatten ihn erschöpft.
Vielleicht ließ er deshalb alles mit sich geschehen. Was sonst hätte er auch tun sollen? Sich der Polizei stellen? Von Gunten und Parada hätten schon dafür gesorgt, dass man ihm nicht glaubte.
Orlandi hob die Brauen und sah ihn an wie einen dummen Jungen. «Na, wo drückt der Schuh?»
«Der Schuh hat in mein Gesicht gedrückt», brummte Alexander. «Ich dachte, das sieht man.»
«In der Tat.»
Als Orlandi sich über ihn beugte, kitzelte der Geruch von Pfeifentabak Alexanders Nase. Immerhin konnte er noch riechen.
Der Professor stieß einen kurzen Seufzer aus. «Da werde ich wohl am besten gleich operieren.»
«Operieren?», rief Alexander. «Was? Wozu?»
«Die Nase natürlich. Damit Sie wieder frei atmen können.
Außerdem wollen Sie doch nicht für den Rest Ihres Lebens aussehen wie Belmondo.» Orlandi wandte sich zu Ilaria um.
«Schwester, bereiten Sie alles vor.»
«Ja, Herr Professor.»
Nachdem sie den Raum verlassen hatte, zog Orlandi die Jacke aus und hängte sie sorgfältig über einen Stuhl. Dann krempelte er die Ärmel seines blütenweißen Hemdes bis über die Ellbogen hoch und machte sich an einem Schrank mit Arzneifläschchen zu schaffen.
«Sie sollten sich auf die Liege dort legen und Jacke und Hemd ausziehen», sagte er, als er sich wieder zu Alexander umdrehte.
In der rechten Hand hielt er einen kleinen, durchsichtigen Plastikzylinder, der in einer langen Nadel auslief. «So kann ich Ihnen die Spritze am besten geben.»
«Jetzt auch noch eine Spritze?»
«Nur keine Angst, mein Bester. Die Operation wird schmerzhaft. Sie werden für die Betäubung noch dankbar sein.»
Als die Nadel in seinen Oberarm fuhr und das Zimmer kurz darauf vor seinen Augen zu verschwimmen begann, fragte Alexander sich, ob er richtig gehandelt hatte, als er zu Stelvio Donati in den Wagen stieg. Bleierne Müdigkeit senkte sich über ihn. Ein panischer Versuch, gegen das betäubende Schweregefühl anzukämpfen, scheiterte kläglich. Sein letzter Gedanke, bevor um ihn her alles finster wurde, galt Elena.
19
Donnerstag, 14. Mai
Der Anblick des Krankenzimmers hatte etwas Deprimierendes.
All das klinisch saubere Weiß und die hochmodernen Apparaturen mit ihrem wichtigen Tuten und Piepen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies das Vorzimmer zum Jenseits war. Ob zum himmlischen Frieden oder zum Fegefeuer, darüber machte er sich
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