Der Entertainer
aus. Tödliche Stille…
***
Wir hatten Madame Oviano stützen müssen, als sie das große Grabmal verließ. Sämtliche Kraft schien aus ihrem Körper gewichen zu sein, und ihre Füße schleiften beim Gehen über den Boden. Sie hielt den Kopf gesenkt. Beide sahen wir, wie sie weinte.
Draußen saßen noch immer die Menschen an den Gräbern ihrer Verwandten und warteten darauf, durch Madame Ovianos Hilfe mit den Toten in Kontakt treten zu können. An diesem Tag würde das nicht mehr möglich sein. Die Voodoo-Königin kam mir vor wie eine gebrochene Frau.
Es war zwar nicht der richtige Sitzplatz, wir drückten sie trotzdem auf die obere Kante eines niedrigen Grabsteins nieder. »Bleib du bei ihr«, sagte ich.
»Was machst du?«
Mein Nicken galt dem Grabmal. »Ich möchte mich um das junge Medium kümmern.«
»Denkst du, daß ihm etwas passiert ist?«
»Ich weiß es nicht.«
»Okay, John.«
Diesmal brauchte ich die Tür nicht aufzuziehen, als ich das kleine Haus betrat.
Coco lag noch immer im Kerzenschein. Sie sah nicht mehr so starr aus und erinnerte mich jetzt an eine Schlafende. Auch ihr Atem ging ruhig und sicher.
Ich schob mich an den Flammen vorbei und ging neben ihr in die Knie. Sie mußte mich bemerkt haben, weshalb hätte sie sonst die Augen aufgeschlagen?
Wir schauten uns an. Sie sah gegen meinen lächelnden Mund. Ich hoffte, ihr Vertrauen erringen zu können.
»Coco?«
»Si…« Gut, sie konnte reden, aber leider nicht in meiner Sprache, wie mir ihre nächsten Worte bewiesen. Dafür verstand sie die Geste, als ich ihr meine Hand hinhielt, sie das Gelenk umfaßte und sich von mir in die Höhe helfen ließ.
Schwankend stand sie da. Die Decke hatte sie zwar mitgenommen, sie war aber verrutscht, so daß ihr linker Busen freilag. Sofort zog sie das Tuch davor.
Ich deutete auf die Tür. Coco aber bewegte den Kopf und fragte nach Madame Oviano.
»Sie ist draußen.«
Das Mädchen nickte, ging vor, ohne meine Hand loszulassen. Daß sie mit ihren Füßen durch die heiße Aura der Kerzenflammen streifte, machte ihr nichts aus. Vor dem großen Grabmal blieb sie für einen Moment stehen, um dann mit langen Schritten auf Madame Oviano zuzulaufen. Sie rief ihren Namen und warf sich der Frau an den Hals. Suko kam mir entgegen. Er hob die Schultern. »Ich habe versucht, etwas Konkretes herauszufinden, aber die Voodoo-Königin zeigte sich verschlossen.«
»Will sie nicht reden?«
»Das nehme ich fast an.« Suko wischte Schweiß von seiner Stirn und vertrieb Insekten. »Es ist möglicherweise zu viel für sie gewesen. Das Medium mußte die Nähe des Grauens gespürt haben.«
»Hast du denn auch etwas bemerkt?«
»Nein.«
»Eben.«
Suko hielt mich am Arm fest. »Hör zu, John, die Kleine hat von Taten und viel, viel Blut gesprochen, wie Madame sagte. Es kann nur bedeuten, daß der Entertainer in einen Amoklauf verfallen ist und nicht nur einen Menschen auf dem Gewissen hat.«
Ich deutete über den alten Friedhof. »Hier tauchte er nicht auf.«
»Stimmt.«
»Und Rio ist weit.«
»Okay, da sprichst du was an. Stellt sich die Frage, wie wir wieder zurück in die Stadt kommen. Unsere beiden Begleiter haben das Weite gesucht.«
»Frag Madame Oviano. Die weiß doch auf alles eine Antwort. Nur nicht darauf, wen es erwischt hat.«
»Das wird uns Cavaldos dann sagen können.«
Wir wurden abgelenkt, weil wir das Geräusch eines Motors hörten. Der Wagen schaukelte näher, passierte das ungewöhnliche Leichenhaus und kam dicht neben uns zum Stehen. Maria sprang hinaus. Sie hatte sich umgezogen, trug jetzt reißfeste Khakikleidung und einen Indiana-Jones-Hut auf dem Kopf. Allerdings war sie nicht bewaffnet.
»Bin ich zu spät?« fragte sie.
»Wofür?«
Sie hob die Schultern. »Ich habe euch den Weg gewiesen und möchte nun erfahren, ob ich Erfolg hatte.«
»Das steht noch nicht fest.«
»Es war also nichts mehr mit dem Entertainer.«
»Wir haben keine Ahnung«, sagte Suko und fragte weiter. »Wo kommen Sie her?«
»Ich war bei meinen Eltern und habe mich umgezogen.«
»Wohnen die hier in der Nähe?«
»Ja«, sagte sie nur und lief auf Madame Oviano und das Medium zu. Coco kniete neben der Voodoo-Königin, die nach wie vor auf der Grabsteinkante saß. Das Medium hatte seinen Kopf auf den Oberschenkel der Frau gelegt, und diese streichelte mit ihrer rechten Hand automatisch Cocos Haar.
An den anderen Grabsteinen hockten noch immer die bleichen Gestalten und warteten auf ein Zeichen aus dem Totenreich.
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