Der Erbe Dschainas
ungefähr sechs Tage.« Sie deutete zur Flugkabine. »Gehen Sie ruhig hinein und sehen sich die Sache mal an. John und ich benötigen etwas Zeit für uns.«
Thorn schloss den Klettverschluss seines Overalls, nickte, steckte die Füße in die Deckschuhe, die zum Bekleidungspaket gehörten, und ging zur Flugkabine. Er verstand Jarvellis vollkommen: offenkundig war sie einige Zeit vor ihm und Stanton aus dem Kälteschlaf erwacht, und er wusste gut, wie rasch sich die normalen Körperfunktionen wieder zu Wort meldeten – er selbst war schon oft in der ersten Stunde nach dem Auftauen unerträglich geil gewesen. Was er nicht verstand: Warum hatten ihn die beiden nicht noch etwas länger auf Eis liegen lassen? Als er sich umsah, bemerkte er auf einmal, wie eng es inzwischen im Laderaum war. Leicht verärgert, wurde ihm klar, dass Stanton und Jarvellis wenigstens einmal aus dem Kälteschlaf aufgestanden sein mussten, seit er selbst sich hineinbegeben hatte.
In der Flugkabine warf sich Thorn in einen der Kommandosessel und blickte auf den Hauptbildschirm. Dort war der Gasriese Kalypse abgebildet, und die Korona des Sterns funkelte rechts davon – wobei der größte Teil des Lichts durch eine lichtaktive schwarze Scheibe abgedunkelt blieb. Wie Stanton erläutert hatte, ehe sie sich in den Kälteschlaf legten, war Masada umringt von den Lasergeschützen und Zylinderwelten der Theokratie, und die planetare Bevölkerung wurde durch den technischen Vorsprung der herrschenden Kaste in andauernder Knechtschaft gehalten. In Anbetracht dieser Umstände fragte sich Thorn, wie seine Gefährten die Lyric II auf die Oberfläche bekommen wollten. Zugegeben, man fand oft Lücken, durch die ein kleines Schiff schlüpfen konnte, da jede Weltraumzivilisation eine Menge Verkehr voraussetzte. Die Lyric II jedoch war, obwohl man sie mit einem systeminternen Transporter verwechseln konnte, nicht gerade klein. Thorn überlegte sich, dass er da ruhig etwas experimentieren konnte.
»Lyric, kannst du mir antworten?«, fragte er.
»Ich kann antworten, obschon Ihnen die Antwort vielleicht nicht gefällt«, versetzte die Schiffs-KI.
»Ich kann mir nicht recht vorstellen, wie Stanton mit diesem Schiff unentdeckt auf dem Planeten landen möchte. Er hat mir gesagt, dass es nur einen Raumhafen gibt und dieser nur dem militärischen und dem Handelsverkehr der Theokratie offen steht; und ich habe jeden Grund zu der Annahme, dass die Fracht an Bord nicht für sie bestimmt ist.«
»Und wie lautet nun Ihre Frage?«, wollte Lyric wissen.
»Wie gedenkt er dieses Schiff unentdeckt auf die Oberfläche von Masada zu bringen?«
»Tut mir Leid, das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Kennst du die Sicherheitscodes der Theokratie?«
»Nicht, als ich letztes Mal nachgesehen habe.«
Thorn lehnte sich zurück und verzog das Gesicht; nur Leute im Endstadium der Naivität glaubten, dass KIs nicht logen. Tatsächlich hatte er jedoch die Erfahrung gemacht, dass sie bessere Lügner waren als Menschen.
»Woraus besteht deine Fracht?«, fragte er freiheraus.
»Jetzt aber mal im Ernst, Herr Polis-Agent!«
»Okay, was kannst du mir von Masada erzählen?«
»Ich habe etwa zehntausend Stunden Vortrag über dieses Thema gespeichert. Was möchten Sie erfahren? Politisches System, Ökosystem, symbiotische Adaptation, Religion? Etwa die Hälfte meines Materials gehört zu diesem letztgenannten Thema.«
»Wie wäre es mit einer halbstündigen Zufallsauswahl? Ich denke mir, dass ich dann wohl Zutritt zur Dusche erhalte.«
»In Ordnung. Ich beginne mit dem planetaren Ökosystem vor dem Eintreffen des Menschen und fahre dann fort mit den Feststellungen der ersten Vermessungseinsätze, der sich anschließenden Inbesitznahme und der Geschichte der Theokratie. Wäre das ausreichend?«
»Ja, danke.«
Mit Unterbrechungen durch Thorns Fragen dauerte die Filmvorführung eine Stunde. Die beiden Punkte, die ihn am meisten faszinierten, waren das natürliche Ökosystem und das merkwürdige Lebenssystem, das die Theokratie eingeführt hatte: im ersteren Fall die Trikonusse, Heroynes, Schnatterenten und die entsetzlichen Kapuzler; im zweiten Fall die adaptierten Getreide und Proteinquellen, die durch die Plackerei des größten Teils der Oberflächenbevölkerung kultiviert wurden. Dazu kamen die symbiotischen Lebensformen, die man als billigere Alternative zu Atemgeräten und Schutzanzügen entwickelt hatte, die aber darüber hinaus für die Theokratie dogmatisch leichter zu
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