Der Erbe von Sean Garraí (Das Kleeblatt)
zu tun, was er von ihr verlangte, und gleichzeitig eine Verbindung zwischen ihnen aufzubauen. Sie war seine Lebensversicherung, was bedeutete, dass ihm die Polizei dicht auf den Fersen war und er nicht vorhatte, sie aus dem Weg zu schaffen. Zumindest nicht sofort. „Sie sind ein überaus begnadeter Tänzer, der Beste, den das Siamsa tíre in Tralee je gesehen hat. Doch auch als Choreograf sind Sie hervorragend, wie ich verschiedentlich gehört habe. Bedauerlicherweise hatte ich in diesem Sommer noch keine Gelegenheit, in Ihr Theater zu kommen.“
Misstrauisch beäugte Callaghan seine Geisel und wunderte sich über deren Redseligkeit. Er hatte schon davon gehört, dass mancher aus Angst anfing zu reden wie ein Wasserfall. Dagegen war kaum anzunehmen, dass die Kleine so naiv war, die Gefahr nicht zu erkennen, in der sie schwebte. Denn er erinnerte sich noch gut an die Nacht auf dem Hügel und den Tritt, mit dem sie ihn außer Gefecht gesetzt hatte. Dieses hinterhältige Biest wusste sich sehr wohl zu verteidigen. Er würde auf der Hut sein.
Alicia ließ ihren Blick verstohlen die Straße entlang wandern. Zeit war offenbar alles, was ihr im Moment zur Verfügung stand. Zeit, um Callaghan in Sicherheit zu wiegen und derweil in Ruhe auf eine günstige Gelegenheit zu warten, die sie zu ihrem Vorteil nutzen könnte. Sie durfte unter keinen Umständen den Fehler machen, aus Angst eine Entscheidung überstürzt zu treffen. Wenn sie bloß wüsste, was er vorhatte!
Er musste geahnt haben, dass sie im Begriff war, den Mund zu öffnen, als sie die Spitze des Stiletts an ihrer Seite spürte und zusammenzuckte.
„ Du solltest dir sehr gut überlegen, was du sagst.“
Also grüßte sie lediglich i m Vorbeigehen Mary McClelland, über deren Klatschsucht sich Callaghan sogleich amüsiert ausließ. Alicia gab ihm Recht, obwohl sie am liebsten losgeheult hätte, lachte leise über seine Witze und wies dezent auf die Vergesslichkeit der alten Dame hin. Insgeheim betete sie jedoch, sie möge wie immer schleunigst zu ihren Freundinnen Missy McCrohan und Tara O’Farrell eilen und ihnen von den Neuigkeiten über die „kleine Französin“ berichten.
Das Herz sank ihr, als sie den Ort verließen und sie in diesen Minuten niemandem mehr begegneten , der sie kannte und eventuell stutzig geworden wäre, sie Seite an Seite mit dem Tänzer zu sehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Mary McClelland an Nolan’s Pub vorbeikam und Ronan McCauley von ihrer Begegnung mit Gearóid erzählte, war viel zu gering, um sich darauf zu verlassen. Wenn er bloß den Dolch endlich wegnehmen würde!
„Da lang!“ Er deutete mit dem Kinn auf einen Feldweg, der von der Straße abzweigte und mitten in ein Maisfeld führte. „Und zwar ein bisschen dalli! Die alte McClelland ist für meinen Geschmack nicht senil genug, um uns beide gleich wieder zu vergessen. Tz, tz, tz“, drohte er mit erhobenem Zeigefinger, „dachtest, du könntest mich verarschen, wie?“
Der Weg wurde immer schmaler, bis sie schließlich nur noch hintereinander laufen konnten. Mit einer Hand packte er Alicia unsanft am Oberarm, in der anderen hielt er nach wie vor das Stilett in Höhe ihrer Nieren.
„Wo gehen wir hin?“, erkundigte sie sich in einem neugierig interessierten Ton, als würde sie sich auf einen Sonntagsausflug ins Blaue freuen. Der Mais stand so hoch, dass sie nicht erkennen konnte, wohin der Pfad führte. Sie wagte nicht sich umzudrehen, befürchtete allerdings, dass man sie schon längst nicht mehr von der Straße aus sehen konnte.
„ Wart ’s ab.“
Einen kurzen Augenblick blieb er stehen und legte lauschend den Kopf zur Seite. Doch es war nichts zu hören, worüber er sich hätte Sorgen machen müssen. Kein Hubschrauberlärm oder die Sirenen von Polizeifahrzeugen. Keine Schritte, die ihnen folgten. Nichts. Er grinste siegessicher und stieß Alicia in den Rücken. „Weiter. Na, mach schon. Ein Stück noch.“
Dann standen sie vor einem abgestellten Auto und jetzt war es Alicia, die unhörbar aufatmete, weil sie sah, dass niemand im Wagen saß.
„Steig ein, es ist nicht abgeschlossen.“
Sie legte die Hand auf den Türgriff und rüttelte und zog daran.
„Abgeschlossen“ , entschuldigte sie sich und schaute mit Dackelblick auf.
Sie verfolgte, wie Gearóid zu ihr herum schnellte. Seine Verärgerung war deutlich erkennbar und im Bruchteil einer Sekunde spannte sich ihr Körper wie eine Bogensehne. Er wechselte den Dolch von der rechten in die linke Hand und
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