Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer
ein großes Stück den Abhang hinuntergegangen, doch vielleicht war es auch nur ein kurzes Stück gewesen, die Zeit stand still hier; kein Wind blies, und die Sterne rührten sich nicht. Sie betraten jetzt eine der Städte, die es dort gab, und Arren sah die Häuser, deren Fenster nie erleuchtet waren, und unter manchen Türen standen, mit ruhigen Gesichtern und leeren Händen, tote Menschen.
Die Marktplätze waren alle leer. Hier wurde nichts gekauft oder feilgeboten, nichts gewonnen und nichts verloren. Nichts wurde benötigt und nichts wurde gemacht. Ged und Arren waren die einzigen, die durch die schmalen Gassen schritten, obgleich sie ab und zu eine Gestalt um eine Ecke huschen sahen, weit vorne und kaum sichtbar in der Trübnis. Als Arren zum erstenmal eine Gestalt aus der Nähe sah, schreckte er auf und deutete mit seinem Schwert darauf, doch Ged schüttelte den Kopf und ging weiter. Arren sah schließlich, daß es die Gestalt einer Frau war, die sich langsam bewegte und die nicht vor ihnen floh.
All diejenigen, die sie sahen – es waren nicht viele, denn obgleich es viele Tote gibt, ist das Land so riesig, daß sie sich darin verlieren –, standen still oder bewegten sich langsam, gleichmütig, ohne Ziel. Keiner trug Wunden wie die Erscheinung von Erreth-Akbe, der gezwungen worden war, am Ort seines Todes ins Tageslicht hinauszutreten. Keiner trug die Zeichen einer Krankheit. Sie waren alle geheilt vom Schmerz und vom Leben. Sie waren nicht abstoßend, wie Arren es befürchtet, nicht furchterregend, wie er erwartet hatte. Ihre Gesichter waren ruhig, sie waren frei von den Lasten und Lüsten des Lebens, ihre umschatteten Augen bargen keine Hoffnung mehr.
Und so kam es, daß Arren anstelle der Furcht nur großes Mitleid für sie empfand, und wenn das Mitleid auch der Furcht entsprungen sein mochte, so fürchtete er nicht um sich selbst, sondern um alle Menschen. Denn er sah die Mutter und das Kind, die zur gleichen Zeit gestorben und im dunklen Land beisammen waren, doch das Kind rannte nicht herum und weinte nicht, und die Mutter hielt es nicht in ihren Armen und schaute es nicht an. Und die, die um der gemeinsamen Liebe willen gestorben waren, begegneten sich still auf der Straße und setzten gleichgültig ihren Weg fort.
Die Scheibe des Töpfers stand still, der Webrahmen war leer, der Herd kalt. Keine Stimmen erhoben sich zum Gesang.
Die dunklen Straßen zwischen den dunklen Häusern schienen kein Ende zu nehmen, und sie schritten immer weiter. Der Tritt ihrer Füße war das einzige Geräusch. Und es war kalt. Am Anfang hatte Arren die Kälte nicht wahrgenommen, doch jetzt spürte er, wie sie in seinen Geist, der ihm hier Körper war, eindrang. Er fühlte, wie große Müdigkeit ihn überfiel. Der Weg, den sie zurückgelegt hatten, mußte lang gewesen sein. Warum noch weitergehen? fragte er sich, und seine Schritte verlangsamten sich.
Ged blieb plötzlich stehen und wandte sich einem Mann zu, der an einer Kreuzung stand. Er war schlank und groß, und es kam Arren vor, als hätte er das Gesicht schon einmal gesehen, doch er konnte sich nicht mehr erinnern, wo das gewesen war. Ged sprach ihn an. Keine Stimme hatte – seit sie die Steinmauer überquerten – die Stille dieses Landes unterbrochen. »O Thorion, mein Freund, dich finde ich hier?«
Und er streckte dem Gebieter von Rok seine Hände entgegen.
Thorion erwiderte die Geste nicht. Er stand still und stumm, und sein Gesicht war unbeweglich, doch das silberne Licht von Geds Stab fand einen zaghaften Widerschein in den umschatteten Augen. Ged ergriff die Hand, die ihm nicht entgegengestreckt wurde, und sprach: »Was suchst du hier, Thorion? Du gehörst noch nicht in dieses Königreich. Kehre um!«
»Ich folgte dem Unsterblichen. Ich habe meinen Weg verloren.« Die Stimme des Gebieters war leise und teilnahmslos, wie die Stimme eines Menschen, der im Schlaf redet.
»Hinauf, auf die Mauer zu«, sagte Ged und deutete zurück auf die Straße, auf der sie heruntergekommen waren.
Diese Worte lösten ein Zucken auf Thorions Gesicht aus, als ob die Hoffnung, scharf wie ein Schwert, in ihn zurückgekehrt sei.
»Ich kann den Weg nicht finden«, sagte er. »Mein Meister, ich kann den Weg nicht finden!«
»Vielleicht wirst du ihn jetzt finden«, sagte Ged und umarmte den Meister des Gebietens, dann ging er weiter seines Weges. Thorion blieb regungslos an der Kreuzung hinter ihnen stehen.
Als sie weitergingen, kam es Arren vor, als gäbe es in dieser
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