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Der Erl�ser

Titel: Der Erl�ser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesb�
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vierundzwanzig Jahren in die Osloer Annalen eingehen sollte, war noch nächtlich dunkel. Harry entfernte sich vom Präsidium, wo er sich von Gerd Tom Waalers Wohnungsschlüssel hatte geben lassen. Er hatte den Mantelkragen hochgeschlagen, und wenn er hustete, kam es ihm vor, als wären alle Geräusche wie von Watte gedämpft, als hätte die Kälte die Luft schwer und dicht gemacht.
    Die Menschen hasteten in der morgendlichen Rushhour über die Bürgersteige und schienen gar nicht schnell genug ins Warme kommen zu können. Nur Harry ging mit langsamen, weit ausholenden Schritten, wobei er etwas in den Knien federte, um reagieren zu können, falls die Gummisohlen seiner Dr.-Martens-Stiefel auf dem Eis den Halt verlieren sollten.
    Als er Tom Waalers zentral gelegene Junggesellenwohnung aufschloss, begann sich der Himmel über dem Ekebergåsen langsam hellgrau zu verfärben. Das Apartment war in den Wochen nach Waalers Tod versiegelt gewesen, aber sie hatten nicht ermitteln können, wer sonst noch in den Waffenschmuggel verwickelt war. So sah das auf jeden Fall der Kriminalchef, als er allen mitteilte, dass der Fall aufgrund anderer dringender Aufgaben ab sofort geringere Priorität habe.
    Harry machte das Licht im Wohnzimmer an und stellte wieder einmal fest, dass in den Wohnungen von Toten eine ganz besondere Stille herrschte. An der Wand vor der glänzend schwarzen Ledergarnitur hing ein wertvoller Plasmafernseher, der von meterhohen Lautsprechersäulen flankiert wurde. Sie schienen Teil einer Surroundanlagezu sein. An den Wänden hingen diverse Bilder mit blauen würfelartigen Mustern. Rakel nannte so etwas immer »Lineal-und-Zirkel-Kunst«.
    Er ging ins Schlafzimmer. Durchs Fenster fiel graues Licht herein. Der Raum war aufgeräumt. Auf dem Schreibtisch stand ein PC-Bildschirm, er sah aber keinen Rechner. Der war wahrscheinlich zur Überprüfung mitgenommen worden. Andererseits hatte er ihn nicht unter den Beweismaterialien im Präsidium gesehen. Ihm selbst war jede weitere Beteiligung an den Ermittlungen verwehrt worden. Die offizielle Begründung lautete, es liefen interne Ermittlungen gegen ihn, da er Waaler getötet hatte. Doch er wurde den Gedanken nicht los, dass einigen Leuten sehr daran gelegen war, nicht alle Steine umzudrehen.
    Harry wollte gerade aus dem Schlafzimmer gehen, als er es hörte. Es war doch nicht ganz still in dieser Totenwohnung.
    Ein Laut, ein entferntes Ticken, verursachte ihm ein Prickeln auf der Haut und ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Es kam aus dem Kleiderschrank. Einen Moment zögerte er, dann öffnete er die Tür. Am Boden des Schranks stand ein offener Pappkarton. Er erkannte sofort die Jacke wieder, die Waaler an jenem Abend in Kampen getragen hatte. Obendrauf lag eine Armbanduhr und tickte. Das gleiche Ticken, das er gehört hatte, nachdem Tom Waaler seinen Arm durch das Fenster der Fahrstuhltür gestreckt hatte. Hinein in den Fahrstuhl, der sich daraufhin in Bewegung gesetzt und ihm den Arm abgetrennt hatte. Wie angewurzelt hatten sie anschließend in der Kabine gesessen, den abgerissenen Arm zwischen sich, der wachsartig und leblos dalag wie der Teil einer Schaufensterpuppe, nur mit der lustigen Besonderheit, dass dieser Arm eine Uhr trug. Eine Uhr, die tickte, die sich weigerte, stehen zu bleiben, sondern weiterlebte. Wie in der Geschichte, die Vater ihm vorgelesen hatte, als Harry noch klein gewesen war, die Geschichte vom schlagenden Herz eines Toten, das nicht aufhören wollte zu schlagen und so den Täter schließlich in den Wahnsinn trieb.
    Es war ein entschiedenes Ticken, energisch, nachdrücklich. Ein Ticken, an das man sich erinnerte. Es war eine Rolex. Schwer und ohne Zweifel unglaublich teuer.
    Harry knallte die Schranktür zu. Stampfte mit den Füßen aufdem Boden auf, so dass das dumpfe Geräusch von den Wänden zurückgeworfen wurde. Klimperte laut mit dem Schlüsselbund, als er abschloss, und summte wie manisch ein Lied, bis er draußen auf der Straße stand, wo der Lärm des göttlichen Verkehrs alles übertönte.
     
    *
     
    Um drei Uhr fielen bereits lange Schatten über den Kommandeur-T.-I.-Øgrims-Platz 4, und in den Fenstern des Hauptquartiers der Heilsarmee brannten die ersten Lichter. Um fünf war es dunkel, und das Quecksilber hatte sich auf minus fünfzehn Grad zusammengezogen. Ein paar einzelne verirrte Schneeflocken fielen auf das Dach des seltsamen kleinen Wagens, in dem Martine Eckhoff wartete.
    »Jetzt komm schon, Papa«, murmelte sie und sah

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