Der Eroberer
sich sträubte, half ihm in den Sattel und setzte sich dahinter. »Wo wohnst du?«
»In der Nähe des Westwalls … aber, bei Hera, spute dich. Bald werden sie die Leichen finden und die Jagd eröffnen.« Der Wegschilderung folgend zügelte Simon das Pferd durch die Abenddämmerung.
Sie erreichten ein hübsches, großes Haus inmitten eines Gartens, der von einer hohen Mauer umgeben war. Sie trabten durch einen weiten Eingangsbogen. Sie stieg vom Pferd und schloß das Tor. Ein alter Mann erschien im Vorhof. »Camilla? Was ist passiert?«
»Später, Vater. Die Diener sollen das Pferd in den Stall bringen und zusehen, daß alle Eingänge verriegelt sind … Olympias’ Anhänger haben wieder versucht, mich zu entführen. Dieser Mann hier konnte mich retten … Aber vier meiner Verfolger sind tot.«
»Tot? Oh, ihr Götter!« Der alte Mann biß die Lippen zusammen. Er trug eine lose Toga und hatte ein ernstes, patrizisches Gesicht. Allem Anschein nach gehörte er dem Adel an. Die schwarzhaarige Tochter allerdings war ihm denkbar unähnlich.
Simon wurde schnell ins Haus geführt. Herbeigerufene Diener versorgten ihn mit Brot, Käse und Früchten. Er aß mit großem Appetit und erzählte, was er von seiner persönlichen Geschichte preiszugeben geneigt war. Merates, der Patrizier, hörte kommentarlos zu.
Auch im Anschluß an Simons Bericht ging Merates immer noch nicht direkt auf seinen Gast ein. Statt dessen sagte er, wie im Selbstgespräch: »Wenn doch König Philipp bloß ohne Nachfolger geblieben wäre … Frieden und Fortschritt würden herrschen und nicht Krieg und Verwüstung. Ich verfluche den Namen Alexander und die Schlange, die ihn geboren hat. Wäre Alexander von seinem Vater erzogen worden, so hätte er vielleicht den großen Plan Philipps verwirklichen können. Aber seine verworfene Mutter hat ihm andere Ideen in den Kopf gesetzt und ihn gegen den Vater aufgehetzt. Jetzt weht das Böse mit allen vier Winden nach Osten, Westen, Süden und Norden … und die Hunde der Finsternis geifern, reißen und heulen auf Alexanders blutiger Fährte.«
Camilla erschauerte. Sie hatte ihre Straßenkleidung gegen ein wallendes, hauchdünnes Gewand aus blauer Seide gewechselt. Ihr langes, offenes, schwarzes Haar fiel auf die Schulter herab und schimmerte wie dunkler Wein.
Sie sagte: »Obwohl Alexander erobernd umherzieht, terrorisiert Olympias Pela schlimmer als je zuvor. Jungen und Mädchen werden ausgewählt, um an ihren gräßlichen Ritualen teilzunehmen. Über zehn Monate hat sie mich gedrängt, ihrem Kreis beizutreten. Jetzt ist ihre Geduld am Ende, und sie versucht, mich zu entfuhren. Sie wird bald vom Tod ihrer Diener erfahren … Aber sie braucht nicht zu wissen, daß du der Mörder bist, Simon.«
Simon nickte stumm. Die dunkle Schönheit des Mädchens hatte ihm die Sprache geraubt und seine Leidenschaft entfacht wie nie zuvor.
Unruhig waren die Zeiten; Zeiten heroischer Taten und großer Gelehrsamkeit; Zeiten unsäglicher Verbrechen und des Mut willens. Alexander war ein Spiegelbild dieser Epoche. In einem Atemzug gab er den Befehl für Massaker und ehrte eine eroberte Stadt für ihren mutig geleisteten Widerstand. Bucephalus, sein stattliches Pferd, trug den schmuckvoll gerüsteten Feldherrn quer durch die bekannte Welt. Die Flutwelle seiner Eroberungen zerstörte fünf alte Zivilisationen, tötete weise Männer und Unschuldige. Doch er ließ neue Städte entstehen und Bibliotheken erbauen. Gebildete Männer folgten ihm – dem Schüler von Aristoteles – und seinem Troß. Für alle blieb er ein Rätsel. Griechenland, Persien, Babylonien, Assyrien, Ägypten – sie alle mußten sich ihm ergeben. Vier mächtige Völker, vier alte Zivilisationen trugen sein Joch. Die Menschen fragten sich, ob er eine Kraft des Dunkels oder der Erleuchtung sei, ob er die Welt in Stücke zerrisse oder zu andauerndem Frieden vereinigte. Ein Rätsel, dieser Mann. Jetzt, in der Zeit um 323 v. Chr., war Alexander im Alter von 32 Jahren. Seit zwölf, fast dreizehn Jahren regierte er. In den schwarzen Abgründen der Schöpfung gedieh in viel fältigster Form das Böse und plante kichernd seine Verbre chen.
Seit dreizehn Jahren befehdeten sich Licht und Finsternis in der Seele und im Körper Alexanders, ohne daß der stolze, grandiose und arrogante Eroberer davon Kenntnis nahm. Aber nun verhießen die Sterne, daß eine neue Zeit angebrochen war. Und Alexander litt …
Reiter galoppierten in die entlegensten Winkel der Welt. Bunte
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