Der Eroberer
immer neue Wege, uns zu vernichten.«
Suron lächelte. »Für dich trägt das Universum recht menschliche Züge. Reicht nicht die Feststellung, daß wir trotz alledem triumphiert und das erreicht haben, was die Alten den ›Zustand der Gnade‹ nannten? Ist nicht die Zuneigung, die wir füreinander empfinden, eine Art Belohnung für die Jahrtausende des Kampfes?« Mis’rn neigte den Kopf. »Vielleicht.«
Der Turm bebte. Der Himmel verdüsterte sich, als neue Wolken über den Horizont herbeifegten. Das Meeresdonnern übertönte den Wind. Suron malte mit einem seiner langen Finger ein Zeichen auf die Balustrade.
Der scharfe Wind und die tosende See verstummten plötzlich. Ein Energiefeld hatte sich zu einer unsichtbaren Kuppel über dem Turm ausgebildet. In aller Stille blickten Suron und Mis’rn einander in die großen Augen.
»Aber unsere Kinder sind tot«, sagte Mis’rn schließlich.
Vor etwa fünfzig Jahren hatte jeder dem anderen gleichzeitig ein Kind geschenkt. Beide Kinder waren auf dem Planeten ihrer Geburt zurückgeblieben und mit ihm untergegangen. Suron hatte diesen Verlust ohne Bitterkeit hingenommen, aber Mis’rn, dessen Temperament ganz anders war als das seines Mannes, trauerte immer noch.
Suron tröstete ihn. Wortlos drückte er sein Mitgefühl aus, und Mis’rn dankte es ihm. Wieder fuhr ein Beben durch den Turm.
»Was hast du über die Menschheit geträumt?« fragte Mis’rn. »An die Bilder kann ich mich nicht mehr erinnern, nur an die besondere Wirkung. Ich stand hier träumend, und als ich auf
wachte, war ich glücklich.«
»Du hast mich an diesem Gefühl teilnehmen lassen. Ich würde gern ebenso träumen können wie du. Aber meine Träume, wenn ich überhaupt welche habe, sind voller Sorgen und Katastrophen.«
Suron wies auf die Berge. »Als ich aufwachte, glaubte ich, eine Bewegung auf den Hängen da drüben zu bemerken. Vielleicht war dieser Eindruck nur Teil des Traumes.«
»Das scheint mir auch. Außer uns ist kein Mensch auf Tanet zurückgeblieben. Und Tiere leben hier nicht. Dafür haben unsere Vorfahren gesorgt.«
»Trotzdem verspürte ich den Wunsch, ins Gebirge zu gehen, um nachzuschauen.«
»Das wäre zu gefährlich, Suron. Die gesamte Energie unserer Stadt wird gebraucht, um uns von der Sonne und den Mond von uns fernzuhalten. Wenn du den Schutzkreis verläßt, kann dir zuviel passieren.« »Ich weiß.«
Suron nahm Mis’rns Hand und flüsterte einen Laut.
Sie wurden ins Turminnere transportiert, in einen Raum mit weicher, ständig wechselnder Beleuchtung, durch die ihren Körpersystemen Nahrung zugeflößt wurde. Dann liebten sie sich – kaum daß sie einander berührten, tanzten sie in einem Ballett der Gefühle durch den Raum.
Noch einmal bebte der Turm, und das Licht flackerte einen Moment lang, konnte aber gleich wieder seine Transformationsfunktion fortsetzen.
Mis’rn brach den Tanz ab. In seinem Gesicht tauchten, wie Suron bemerkte, Spuren einer längst vergessenen Empfindung auf – die der Furcht.
»Wir müssen uns damit abfinden, Mis’rn«, sagte er. »Wir nannten die Stadt ›Unentrinnbare Hoffnung‹, denn hoffen mußten wir. Daß die Hoffnung jetzt verloren ist, müssen wir akzeptieren.«
»Ich kann nicht«, seufzte Mis’rn. »Suron, ich kann nicht.«
Suron kam auf ihn zu und nahm ihn in die Arme. »Versetze dich in Schlaf«, schlug er vor. »Mach dich frei von allen Sorgen. Vielleicht hilft das.«
»Das habe ich seit meiner Kindheit nicht getan.«
»Dann wird es Zeit, Mis’rn. Der Schlaf half unseren Vorfahren über Nöte hinweg. Deshalb schliefen sie.« »Ich will es versuchen.«
Suron schrieb ein bestimmtes Zeichen an die Lichtwand. In der Mitte des Raumes vibrierte die Luft, und ein Sofa erschien. Mis’rn streckte sich darauf aus und starrte Suron an.
»Schließ die Augen«, sagte er. Mis’rn gehorchte. »Ich komme später wieder und wecke dich auf.«
Suron kehrte auf die Turmspitze zurück. Gleißendes Licht blendete ihn. Er ließ die Schutzkuppel dunkler werden, um auf die Landschaft hinausschauen zu können.
Der Schnee auf den Bergen war geschmolzen. Das Meer umspülte träge die tieferliegenden Türme. Darüber marschierte die monströse Sonne hinweg.
Suron ließ mit den Augen den Bergausläufer näherrücken und musterte jeden gelben Felsen, jede Spalte, jeden Vorsprung. Nur die Schatten bewegten sich mit dem Lauf der Sonne.
Aber dann, als sein Blick den Abhang hinaufwanderte, sah er einen Schatten, der in die entgegengesetzte
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