Der erste Versuch
abgenommen. Doch
was sie befürchtet hatte, trat ein: Ihre Marspflanzen befanden
sich noch in Quarantäne, und nichts würde die deutsche
Bürokratie bewegen können, diese etwa vorzeitig abzubrechen.
Natürlich wusste Alina, dass die Leute dort mit ihrem
Sicherheitsbedürfnis Recht hatten, aber sie befand sich in
einem Zustand der inneren Zerrissenheit, dem sie glaubte nur
durch konzentrierte sinnvolle Arbeit entrinnen zu können.
Dennoch fuhr Alina tags darauf beizeiten mit dem Luftschiff
nach Berlin. Sie hatte das verhältnismäßig langsame
Verkehrsmittel gewählt, weil ihr bewusst geworden war, dass
ihr bis zur Freigabe der Proben noch viel Zeit blieb und Berlin
vielleicht die nötige Abwechslung bot. So versuchte sie bereits
die Reise zu genießen. Diese führte über die Alpen, die
deutschen Ebenen, bis die europäische Metropole Berlin
auftauchte, auf die sich Alina eigentlich gefreut hatte und die
von oben mit ihren Türmen und Bahnen, Kanälen, Bauklötzen
und roten Dächern wie der Teppich eines entropischen,
verrückten Webers aussah.
Gleich am Tempelhofer Luftschiffhafen wurden die
Neuankömmlinge darauf aufmerksam gemacht, dass in der
Stadt so genannte Zweitklassler umtriebig seien, und es
deshalb nicht ratsam wäre, zu Fuß und ohne Begleitung
unterwegs zu sein.
Alina schloss sich einer Gruppe von Touristen an, reservierte
wie diese Übernachtung, und sie fuhren gemeinsam mit der
Vakuumschnellbahn ins Zentrum. Und dann sahen sie: Auf
Bahnsteigen und mitunter in den Straßen trieben sich johlende
Scharen von vorwiegend jungen, zum Teil maskierten Leuten
herum, die Transparente mit fordernden Aufschriften trugen
und einen durchaus bedrohlichen Eindruck erzeugten.
Dennoch entschloss sich Alina zu einem Spaziergang,
nachdem sie im Hotel „Am Zoo“ ihr Zimmer bezogen hatte.
Sie nahm von der Dame an der Rezeption befremdet, jedoch
auf dringende Empfehlung, einen elektronischen Pfadfinder
mit der Zusicherung an, dass nach dessen Betätigung in
spätestens drei Minuten einer der Tausenden im Einsatz
befindlichen Stadtwächter zu ihrem Schutz an ihrer Seite sein
würde. Alina fand das übertrieben, beinahe lächerlich,
erachtete das kleine Gerät in ihrer Tasche jedoch zu dem
Zeitpunkt als beruhigend, während sie sich angerempelt, im
Körperkontakt mit mehreren Leuten, durch eine lautstarke
Gruppe junger Männer zwängen musste, die im Chor grölte: „Geld macht euch gesund und schön, Fäuste lassen beides
vergehn.“ Dabei schlugen sie bedrohlich kräftig an Fenster der
Restaurants, schnitten den verängstigten Gästen Grimassen,
rüttelten an Einfriedungen der Straßencafes und belästigten
Passanten, die sich für Läden der gehobenen Preisklassen
interessierten. Begleitet aber wurde der Spuk von jungen
Männern, die sich an Lärm und Randale nicht beteiligten und
allzu brutale Zugriffe verhinderten. Die Stadtwächter,
vermutete Alina.
Aber geheuer war Alina das alles nicht, der Spaziergang
gründlich verleitet. Sie setzte ihren Ausflug im Liftzug fort,
stieg lediglich am Brandenburger Tor für Minuten ab, sah sich
die Gedächtniskirche von weitem an und kehrte wenig
befriedigt zum Quartier zurück.
Ein ausgezeichnetes Holokonzert mit Werken von Mozart am
Abend im Atrium des Hotels versöhnte sie dann einigermaßen
für diesen Tag mit der unfreundlichen Stadt. Aber im Grunde
war ihr dieses Berlin verleidet. Was sollte sie mit den Tagen,
die ihr bis zur Aufnahme der Arbeiten blieben, um alles in der
Welt in dieser Umgebung anfangen. Freilich, Angebote gab es
unzählige, sicher sehr wertvolle darunter. Doch sie hatte
einfach keine Lust, mit Piepser und Wächter zwischen Grölern
die Stadt und ihre Highlights kennen zu lernen.
Und schon nach dem Konzert fand sich der Kreisel in Alinas
Kopf wieder ein: Milan drehte sich unentwegt um Milan.
Wenn überhaupt eine Chance bestand, dem Zusammenhang
zwischen den beiden Nowatscheks auf die Spur zu kommen,
dann hieß es wohl, bei Milan eins anzuknüpfen. Doch sosehr
Alina ihre Erinnerung auch strapazierte, einen konkreten
Ansatz fand sie nicht. Einigermaßen überrascht stellte sie fest,
dass ihre Kenntnisse über persönliche Daten Milans, über seine
Herkunft, seinen Lebenslauf – trotz der gemeinsamen Jahre –
mehr als dürftig zu Buche schlugen. Sie wusste vom Inkubator,
davon, dass sich die Mutter beizeiten von einem Familienleben
distanziert und der Vater sich mehr mit seiner Flussschifffahrt
als mit dem Sohn befasst hatten.
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