Der Esper und die Stadt
Sinn. Er halluziniert. Da kommt schon wieder dieses verdammte silberne Alptraumflugzeug. Du halluzinierst. Wach auf! Wach auf!“
Ich öffnete die Augen. Ich stand immer noch und war nach hinten gebeugt. Das Messer war zwanzig Zentimeter von meiner Kehle entfernt. Ich sah, wie der Hohepriester mit geweitetem Blick meine Augen suchte. Seine Pupillen hatten sich vergrößert und wurden immer dunkler.
„Du trägst ein Kettenhemd, du Hundesohn“, sagte er auf englisch und fügte dann in einer anderen Sprache hinzu: „Warum liebe ich dich? Bist du real? Du bist mein anderes Ich, mein Traum-Ich, das ich jeden Morgen, bevor ich aufstehe, besiegen und verstecken muß. Was wird mit mir geschehen, wenn ich meinen eigenen Traumkörper umbringe?“
Obwohl er nur wenig Drogen geschluckt hatte, unterlag auch er der Massenhalluzination, die die anderen die Welt als einen großen, grünen Dschungel, in dem es in der Ferne nur ein paar weiße Pyramiden gab, sehen ließ. Er redete in einer vergessenen. Sprache und erwartete nicht, daß ich ihn verstand.
Aber da er zu einem Teil immer noch ein Angehöriger der modernen Welt war, brauchte er eine Entschuldigung, um sich erklären zu können, warum er innehielt.
„Ich bin nicht dein Traum-Ich, sondern ein Sonnenkurier, der deine Gestalt angenommen hat“, sagte ich in der gleichen fremdartigen Sprache. Und dann, plötzlich auf englisch überwechselnd, fügte ich rauh hinzu: „Opfert mich nicht; täuscht es nur vor! Es wird auf dem Fernsehschirm gut aussehen und euch auch Ärger mit dem Gesetz ersparen.“
Er war nicht fähig, mir etwas anzutun. Das Messer wäre in seine eigene Kehle gedrungen. Er akzeptierte diese Tatsache und mußte das Beste daraus machen. Mit einem aufgebrachten Gesichtsausdruck – denn er wußte, daß ich irgendwas mit seinem Bewußtsein angestellt hatte –, riß er das Messer in die Luft, warf einen dramatischen Blick auf die Sonne und ließ es dann in einem Bogen niedersausen, der an meinem Oberkörper vorbeiführte. Drei Zentimeter von mir entfernt machte er eine rituelle Geste, säbelte mit der Klinge überzeugend echt in der Luft herum, riß ein imaginäres Herz aus meiner Brust und hielt es der Sonne entgegen. Aber seine Hände waren leer.
Mit hocherhobenen Händen sah er mir ins Gesicht. Seine Verwirrung war deutlich zu sehen, als er wütend sagte: „Was soll das? Wie kannst du es wagen, in der heiligen Zunge zu sprechen?“
„Sie will dich bei sich haben“, erwiderte ich in der Sprache, die kein Englisch war. Ich hatte sehr schnell aus seinem tiefsten Unterbewußtsein erfahren, daß er den seltsamen Traum und die Erinnerung hegte, schon früher einmal – unter einer glänzenderen Sonne – Priester gewesen zu sein. „Wenn du die Sonne verehrst, mußt du dich in Liebe mit ihr vereinigen. Jeder andere Tod führt dich langsam durch Nebel, Zwielicht und Kälte. Durch alle Generationen vertröstest du sie, opferst Spielzeuge, Puppen und Fremde und dienst damit ihrem Feind, der Dunkelheit. Die Opferung von anderen ist nichts weiter als ein Ersatz für sich selbst.“
Das Gesicht des Hohepriesters war eine von roten und gelben Streifen durchzogene, ängstliche Maske gewesen, in dem die grauen Augen von schwarzen Linien umgeben waren, um so den Eindruck eines mexikanischen Indianers zu erzeugen. Langsam wurde es nun leer. Es strahlte keine Furcht mehr aus. Mit hängenden Schultern wandte er sich von mir ab und ließ das Opfermesser sinken, als hätte er es vergessen.
Ich fragte mich, ob sie ihr Ritual auch ohne das Messer fortsetzen konnten. Was die Sadisten als nächstes vorhatten, wußte ich nicht. Ich hob das Messer auf, zog meinen Übungssäbel und betrat die
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