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Der Esper und die Stadt

Der Esper und die Stadt

Titel: Der Esper und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine McLean
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Sinn. Er hal­lu­zi­niert. Da kommt schon wie­der die­ses ver­damm­te sil­ber­ne Alp­traum­flug­zeug. Du hal­lu­zi­nierst. Wach auf! Wach auf!“
    Ich öff­ne­te die Au­gen. Ich stand im­mer noch und war nach hin­ten ge­beugt. Das Mes­ser war zwan­zig Zen­ti­me­ter von mei­ner Keh­le ent­fernt. Ich sah, wie der Ho­he­pries­ter mit ge­wei­te­tem Blick mei­ne Au­gen such­te. Sei­ne Pu­pil­len hat­ten sich ver­grö­ßert und wur­den im­mer dunk­ler.
    „Du trägst ein Ket­ten­hemd, du Hun­de­sohn“, sag­te er auf eng­lisch und füg­te dann in ei­ner an­de­ren Spra­che hin­zu: „Warum lie­be ich dich? Bist du re­al? Du bist mein an­de­res Ich, mein Traum-Ich, das ich je­den Mor­gen, be­vor ich auf­ste­he, be­sie­gen und ver­ste­cken muß. Was wird mit mir ge­sche­hen, wenn ich mei­nen ei­ge­nen Traum­kör­per um­brin­ge?“
    Ob­wohl er nur we­nig Dro­gen ge­schluckt hat­te, un­ter­lag auch er der Mas­sen­hal­lu­zi­na­ti­on, die die an­de­ren die Welt als einen großen, grü­nen Dschun­gel, in dem es in der Fer­ne nur ein paar wei­ße Py­ra­mi­den gab, se­hen ließ. Er re­de­te in ei­ner ver­ges­se­nen. Spra­che und er­war­te­te nicht, daß ich ihn ver­stand.
    Aber da er zu ei­nem Teil im­mer noch ein An­ge­hö­ri­ger der mo­der­nen Welt war, brauch­te er ei­ne Ent­schul­di­gung, um sich er­klä­ren zu kön­nen, warum er in­ne­hielt.
    „Ich bin nicht dein Traum-Ich, son­dern ein Son­nen­ku­ri­er, der dei­ne Ge­stalt an­ge­nom­men hat“, sag­te ich in der glei­chen fremd­ar­ti­gen Spra­che. Und dann, plötz­lich auf eng­lisch über­wech­selnd, füg­te ich rauh hin­zu: „Op­fert mich nicht; täuscht es nur vor! Es wird auf dem Fern­seh­schirm gut aus­se­hen und euch auch Är­ger mit dem Ge­setz er­spa­ren.“
    Er war nicht fä­hig, mir et­was an­zu­tun. Das Mes­ser wä­re in sei­ne ei­ge­ne Keh­le ge­drun­gen. Er ak­zep­tier­te die­se Tat­sa­che und muß­te das Bes­te dar­aus ma­chen. Mit ei­nem auf­ge­brach­ten Ge­sichts­aus­druck – denn er wuß­te, daß ich ir­gend­was mit sei­nem Be­wußt­sein an­ge­stellt hat­te –, riß er das Mes­ser in die Luft, warf einen dra­ma­ti­schen Blick auf die Son­ne und ließ es dann in ei­nem Bo­gen nie­der­sau­sen, der an mei­nem Ober­kör­per vor­bei­führ­te. Drei Zen­ti­me­ter von mir ent­fernt mach­te er ei­ne ri­tu­el­le Ges­te, sä­bel­te mit der Klin­ge über­zeu­gend echt in der Luft her­um, riß ein ima­gi­näres Herz aus mei­ner Brust und hielt es der Son­ne ent­ge­gen. Aber sei­ne Hän­de wa­ren leer.
    Mit hoch­er­ho­be­nen Hän­den sah er mir ins Ge­sicht. Sei­ne Ver­wir­rung war deut­lich zu se­hen, als er wü­tend sag­te: „Was soll das? Wie kannst du es wa­gen, in der hei­li­gen Zun­ge zu spre­chen?“
    „Sie will dich bei sich ha­ben“, er­wi­der­te ich in der Spra­che, die kein Eng­lisch war. Ich hat­te sehr schnell aus sei­nem tiefs­ten Un­ter­be­wußt­sein er­fah­ren, daß er den selt­sa­men Traum und die Er­in­ne­rung heg­te, schon frü­her ein­mal – un­ter ei­ner glän­zen­de­ren Son­ne – Pries­ter ge­we­sen zu sein. „Wenn du die Son­ne ver­ehrst, mußt du dich in Lie­be mit ihr ver­ei­ni­gen. Je­der an­de­re Tod führt dich lang­sam durch Ne­bel, Zwie­licht und Käl­te. Durch al­le Ge­ne­ra­tio­nen ver­trös­test du sie, op­ferst Spiel­zeu­ge, Pup­pen und Frem­de und dienst da­mit ih­rem Feind, der Dun­kel­heit. Die Op­fe­rung von an­de­ren ist nichts wei­ter als ein Er­satz für sich selbst.“
    Das Ge­sicht des Ho­he­pries­ters war ei­ne von ro­ten und gel­ben Strei­fen durch­zo­ge­ne, ängst­li­che Mas­ke ge­we­sen, in dem die grau­en Au­gen von schwar­zen Li­ni­en um­ge­ben wa­ren, um so den Ein­druck ei­nes me­xi­ka­ni­schen In­dia­ners zu er­zeu­gen. Lang­sam wur­de es nun leer. Es strahl­te kei­ne Furcht mehr aus. Mit hän­gen­den Schul­tern wand­te er sich von mir ab und ließ das Op­fer­mes­ser sin­ken, als hät­te er es ver­ges­sen.
    Ich frag­te mich, ob sie ihr Ri­tu­al auch oh­ne das Mes­ser fort­set­zen konn­ten. Was die Sa­dis­ten als nächs­tes vor­hat­ten, wuß­te ich nicht. Ich hob das Mes­ser auf, zog mei­nen Übungs­sä­bel und be­trat die

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