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Der Esper und die Stadt

Der Esper und die Stadt

Titel: Der Esper und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine McLean
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die di­rekt aus dem Him­mel ge­schwebt kam und auf dem zur Op­fe­rung be­stimm­ten Pup­pen­sta­pel lan­de­te. Das Bild blieb ste­hen: Die schwar­ze Ge­stalt be­fand sich nun in­mit­ten der Pup­pen und schrie die Pries­ter her­aus­for­dernd an.
    Ich hat­te ver­ges­sen, daß ich im­mer noch in der Luft schweb­te. Nun sah ich, daß sich un­ter mir ein Fleck­chen aus­brei­te­te, das so­wohl frei von Bäu­men als auch von Men­schen war. Ich schal­te­te den Dü­sen­gür­tel auf Lan­dung. Sanft trug er mich der Er­de ent­ge­gen. Die Men­ge mach­te un­ter mir einen et­wa zehn Me­ter durch­mes­sen­den Platz frei und ap­plau­dier­te re­spekt­voll, als ich den Bo­den be­rühr­te.
    Es war ein ko­mi­sches Ge­fühl, wie­der fes­ten Bo­den un­ter den Fü­ßen zu ha­ben. Ich roch tro­ckene, sau­be­re Er­de, Gras und ei­ne gu­te Na­se voll hei­ßer ita­lie­ni­scher Süß­wurst, die ir­gend­wo feil­ge­bo­ten wur­de. Ich stell­te den Mann im Pup­pen­ko­stüm auf die Bei­ne und nahm das Bron­ze­mes­ser des Ho­he­pries­ters, um ihn von sei­nen Arm- und Fuß­fes­seln zu be­frei­en.
    Als ich mich hin­knie­te, um sei­ne Fuß­fes­seln zu durch­schnei­den, riß er sich die Pup­pen­mas­ke ab und den Kne­bel her­aus. Über uns sag­te die Stim­me des Fern­seh­spre­chers: „Vie­le un­se­rer Zu­schau­er ha­ben uns um einen Vor­trag über die My­tho­lo­gie der schwar­zen Dä­mo­nen­ge­stalt ge­be­ten, die um elf Uhr an dem az­te­ki­schen Ri­tua­lop­fer teil­nahm. Der An­thro­po­lo­ge Ed­mond Hil­ary hat sich freund­li­cher­wei­se be­reit­er­klärt, uns zu die­sem The­ma et­was zu er­klä­ren. Bit­te, Mr. Hil­ary.“
    Ich sah auf und sah den be­kann­ten Fern­seh­mann ne­ben ei­nem Bild der Py­ra­mi­den­sze­ne ste­hen. Er be­rühr­te die schwar­ze Ge­stalt mit ei­nem Zei­ge­stock, und die Sze­ne ver­än­der­te sich. Die Pries­ter eil­ten auf das En­de der obe­ren Platt­form zu und be­droh­ten die schwar­ze Ge­stalt mit ih­ren Mes­sern. Das schwarz­sil­bern be­mal­te und be­helm­te Ge­sicht schrie ih­nen ei­ne Dro­hung ent­ge­gen.
    „Ahem“, räus­per­te sich der Ex­per­te. „Nun, die­se sym­bo­li­sche schwar­ze Ge­stalt dürf­te den fins­te­ren Gott der Un­ter­welt dar­stel­len, der ein Geg­ner der Hel­lig­keit ist. In den meis­ten My­tho­lo­gi­en re­prä­sen­tiert er die dunklen Nacht­stun­den und die Fins­ter­nis des To­des. Au­ßer­dem ver­kör­pert er aber auch die Dun­kel­heit und Käl­te des Win­ters und den Tod der Ve­ge­ta­ti­on. Er ist der Rich­ter, der grim­mi­ge Sen­sen­mann.“ Der Fern­se­h­ex­per­te zö­ger­te und be­trach­te­te die Film­hand­lung. „Über­ra­schend ist, daß wir es hier mit ei­ner Fi­gur zu tun ha­ben, die in ei­nem hei­ßen Kli­ma, das gar kei­nen rich­ti­gen Win­ter kennt, den Win­ter re­prä­sen­tiert. In hei­ßen Kli­ma­ten ist der Tod in der Re­gel ein Ja­gu­ar oder ir­gend­ein an­de­res Raub­tier. Dort dürf­te der Tod we­der fins­ter noch kalt sein. Wir kön­nen al­so mög­li­cher­wei­se an­neh­men, daß wir dies­mal die Eh­re hat­ten, Zeu­gen ei­nes Ri­tuals ge­we­sen zu sein, das un­vor­stell­bar alt ist und noch aus der Zeit vor den ers­ten nord­ame­ri­ka­ni­schen Städ­te­bau­ern stammt, aus je­ner Epo­che, als man noch auf den Rücken der Mam­muts die Rie­sen­faul­tie­re jag­te – in ei­nem kal­ten Kli­ma.“
    Der Ex­per­te sah zu, wie ich hin­knie­te, um der ro­ten Lei­che mei­nen Er­satz-Dü­sen­gür­tel an­zu­le­gen. „Hmm, nun … äh … kniet er sich hin. Dies ist der Hö­he­punkt des längs­ten Ta­ges, der Tri­umph der hel­len Som­mer­son­ne, und der Geg­ner der Son­ne kniet vor den Pries­tern und bringt der Son­ne ein Op­fer.“ Auf dem Bild­schirm schweb­te die ro­te Lei­che nun dem blau­en Bil­der­buch­him­mel ent­ge­gen.
    Ich stand auf, sah mir an, wie die halb­nack­ten „In­dia­ner“ sich auf den Pup­pen­sta­pel stürz­ten und nach den Fes­seln der fins­te­ren Gott­heit grif­fen. Nach mir. Die bei­den Dü­sen er­ho­ben sich über ih­re Schul­tern wie sich aus­brei­ten­de Schwin­gen, und sie flog lang­sam hoch, über den Al­tar. Die Sze­ne sah pri­mi­tiv aus, wie ein ur­al­ter

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