Der Esper und die Stadt
nachdenklich auf den Knopf und ließ ihn wieder los. „Zigeuner-Ahmed, warum schreist oder stöhnst du nicht, wenn wir auf den Knopf drücken?“
„Wütend macht ihr mich“, erwiderte der große Bursche, der mein Freund war. Seine Gesichtshaut sah grünlich aus und war schweißbedeckt, aber er saß immer noch aufrecht. Nun reckte er sich. Er saß hinter dem Tisch, auf dem seine Hände im Sand ruhten, und warf einen abschätzigen Blick auf die im Zimmer versammelten Männer. Er sah zwar nicht gerade finster aus, aber lächeln tat er auch nicht. „Ihr alle macht mich sehr wütend.“
Seine Antwort gefiel mir. So was Ähnliches hätte ich auch gesagt. Wenn man Ahmed fragte, warum er dies oder jenes getan hatte, fielen seine Antworten immer logisch aus. Das war also ein glatter Treffer für die Wahrheitsdroge.
Ahmed hatte den anderen Kindern aus der UN-Bruderschaft auch nie erzählt, welchem Volk er angehörte. Er hatte immer nur gesagt, er sei ein Mensch. Und jetzt hatte er gesagt, er sei Franzose und Zigeuner. Ein zweiter Treffer für die Wahrheitsdroge. Als zwei Männer den Leichnam des ehemaligen Thronanwärters hinaustrugen, verlor Hisham offenbar jegliches Interesse an einer Exekution. Er wandte sich Ahmed zu und fragte neugierig: „Betreibst du als Zigeuner die Wahrsagerei? Glaubst du an sie?“
„Eine einfache Antwort ist darauf nicht möglich“, antwortete Ahmed nach einer müden Pause. Er zog die Lampe herab, bis sie den Sand besser beleuchtete, und schüttelte den Tisch. Der Sand zerfiel in neue Muster, und lange Schattenstreifen liefen von den Häufchen weg. Mit träumerischer, geistesabwesender Stimme sagte Ahmed: „Ereignisse sind elementar. Alle Gedanken, Erinnerungen und Überzeugungen sind nur teilweise für sie verantwortlich. Wenn ich dem Verlauf der Schatten folge oder Karten lege, dringen sofort viele Interpretationsmöglichkeiten in mich ein, wie die Ergebnisse zu deuten sind. Wirft die Zukunft ihre Schatten voraus? Sind die Schatten, die ich in meinem oder im Gruppenbewußtsein der Menschheit sehe, Bilder? Zeigen die kleinen Ereignisse am Rande, wie die Muster des Sandes, ein gewaltiges Ereignis an, das immer größer wird und die Zukunft formt? Oder hat die Jungsche Analyse recht, wonach die schöpferische Intelligenz sich in die Traumwelt nächtlichen Schlafs und primitiver Erinnerungen zurückgezogen hat, wo aus Träumen Pläne werden, die das gesamte Rassenbewußtsein durch Schlaftelepathie treiben läßt und die Zukunft anhand von Traumplänen dirigiert?“
„Hmm.“ Akbar Hisham, der nun saß, beugte sich vor und stützte sein Kinn auf die Hand, um weiter zuzuhören. „Hmm.“ Plötzlich drehte er sich um und sah in die respektvoll-leeren Gesichter der arabischen Soldaten. Sie hatten zwar nicht verstanden, was Ahmed gesagt hatte, aber seine Worte hatten sie beeindruckt, wie der mystische Gesang einer fremden Sprache oder ein mit Zauberworten gesprochenes magisches Bittgebet.
Der kleine, muskulöse Mann sah sie einen Moment lang an und seufzte. Dann schrie er: „Raus mit euch! Raus! Ich will mir meine Zukunft weissagen lassen. Verschwindet! Und bleibt bloß nicht in der Nähe!“ Er stand auf und jagte die Männer mit heftigen Armbewegungen hinaus. „Los, los. Ich will mir die Zukunft weissagen lassen. Paßt auf, daß niemand die Büros betritt und ich nicht von irgendwelchen Narren oder Telefongesprächen gestört werde. Beeilt euch.“
Die Männer verließen eilig den Raum. Als sie gegangen waren, setzte Akbar Hisham, der Gelehrte und Historiker, sich wieder hin und richtete den Sitz seines Umhangs, ohne Ahmed in die Augen zu sehen. Er blickte zu Boden, strich sich das nichtvorhandene Haar glatt und
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