Der Eunuch
es darum für gewöhnlich auch nicht an gegenseitigen Besuchen zwischen der Familie Ahmeds und ihr. Sie war wohlgelitten und zugleich eine Autorität, auch für ihren regierenden Bruder, den sie ein wenig miterzogen hatte.
„Ich verkenne Ibrahims Verdienste durchaus nicht“, sagte sie, „aber daß er es zum Aufstand kommen ließ, beweist, wie wenig Aufmerksamkeit er dem Nächstliegenden zuwendet.“ - Die Verlegenheit des Bruders bemerkte sie nicht, während sie das sagte. - „Welch ein Unsinn!“ fuhr sie fort. „Mit der heiligen Fahne herauszukommen und dann die Truppen hier festzuhalten. Wenn sie unterwegs nach Persien wären, wie sie es sein müßten, dann hätte sich überhaupt nicht! ereignet.“
„Und wir hätten statt Grenzplänkeleien einen wirklichen Krieg.“ „Ach so!“ Unmißverständlich dehnte Chadidsche ihr ,so‘. An Ahmeds Einwurf erkannte sie sofort dessen Schuld an der eigenen Katastrophe. Männer jedoch nahm sie nie ganz ernst. Immer hatte sie sich durchgesetzt, zuerst bei ihrem Vater, dann bei ihrem Mann, und Ahmed war für sie der kleine Junge. „Hättest du doch auch dieses Mal Ibrahim regieren lassen und dich nicht eingemischt!“ seufzte sie wie über ein Kind, das die Schokolade verschüttet hat.
„Keiner glaubte an eine Gefahr“, schmollte Ahmed, in die Verteidigung getrieben. „Der Kiaja gar, der es als Innenminister doch hätte wissen müssen, lachte nur über die Warner und schmähte sie.“ „Alle?“ vergewisserte sich Chadidsche. „Keiner glaubte an die Gefahr? War Beschir nicht auch da?“
„Ja, der war auch da“, murrte Ahmed, unangenehm berührt.
„Und was sagte Beschir ?“
„Ach der! Geredet hat er mehr als in allen früheren Jahren zusammen, und das mit einer Unverschämtheit, Chadidsche, du glaubst es nicht. Aber so war es! Ich hätte nie gedacht, daß er sich so weit vergessen könne. Gerade ein Eunuch ist doch für höfische Zucht und Sitte verantwortlich.“
Nicht einmal einer Antwort würdigte sie Ahmeds Klage.
„Und wo ist er jetzt?“ fragte sie.
„Drüben. Im Neuen Serail. Wo sollte er sonst sein?“
„Hm.“
Von Kind auf kannte Chadidsche Beschir, und als er nach seiner vierjährigen Verbannung zurückgekommen war, hatte sich für die Familie eine schmerzlich empfundene Lücke geschlossen. Für sie gehörte Beschir nicht zu den Männern, mit denen sie sich als beliebte Schwiegermutter, Schwester und Tante heiter und wohlwollend abfand. Für sie war Beschir ein Eunuch, und den nahm sie ernst.
„Er mißbillige meine Politik, hat er mir gesagt“, verklagte ihn Ahmed bei seiner Schwester, „mir ins Gesicht! Wenn nicht seine ganze Vergangenheit gewesen wäre..."
„Es ehrt dich, daß du nichts gegen ihn unternommen hast“, unterbrach Chadidsche ihren Bruder. „Alles andere ist gleichgültig. Ich weiß zwar nicht, was er sagte, aber ich schließe auf die Tiefe seiner Überzeugung und auf die Tapferkeit, mit der er sie vortrug. Warum hättest du dich an ihm vergreifen sollen? Nur weil er sich von einer Politik lossagte, die dich in diese Lage brachte? So wunderbar finde ich deine Lage gar nicht.“
„Noch bin ich Padischah“, versuchte Ahmed ein Aufbrausen, „vergiß das bitte nicht!“
„Du bist es nur deswegen, weil noch kein anderer da ist. Deine Macht hast du schon nicht mehr. Sie liegt auf der Straße. Möge Allah sie dir zurückgeben. Vorerst haben die Rebellen sie aufgehoben. Wir müssen abwarten, welchen Gebrauch sie davon machen. Täusche dich nicht, Bruder, du kannst nur noch einen Machtspruch vollstrecken, der von den Aufständischen gefällt wird. Für einen eigenen fändest du keinen Bostandschi und keinen Kämmerer mehr. Sie haben alle Angst. Und Beschir ist viel zu gewissenhaft, um sich jetzt ohne einen vielleicht unsichtbaren, aber jedenfalls wirksamen Schutz zu zeigen. Stütze dich auf ihn. Denk an die Jahrzehnte seiner Zugehörigkeit zu uns und daß du nicht hilflos in Skutari hocktest, wenn du auf ihn gehört hättest.“ „Du irrst, Chadidsche. Was er mir vortrug, war alles ganz verstiegen. Mit der Stimmung der Truppen hatte das gar nichts zu tun. Davon verstehe er nichts, sagte er.“
„Davon verstehe er nichts ...?“
Chadidsche war bestürzt. Beschir müsse verzweifelt gewesen sein, dachte sie, keinen Ausweg müsse er mehr für Ahmed gesehen haben. Aber sie schwieg, weil sie ihren Bruder nicht noch schwächer machen wollte, als er schon war. Wenn die Flotte nicht treu bleiben und seine Überfahrt
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