Der Experte: Thriller (German Edition)
Sonnenblende. »Ist alles gut?«
»Alles ist gut«, erwiderte Zanni, kehrte auf die Avenue du Provence zurück und entfernte sich vom Dorfplatz.
Victor trank noch einen Schluck Kaffee und ließ ihn einen Moment lang im Mund, ehe er schluckte. In einem Punkt war er sich ziemlich sicher: Nichts war gut.
Hundert Meter vor der Einmündung zur Route 51 hielten sie am Straßenrand. Auf der anderen Seite der Kreuzung wurde aus der schmalen staubigen Pflasterstraße ein Kiesweg, der steil anstieg. Je höher es ging, desto dichter wurde der Wald.
Victor blickte von der Wegbeschreibung auf und deutete dorthin. »Wir fahren auf die andere Seite, dann den Hügel hoch und halten uns rechts. Das Haus steht fast ganz oben auf dem Berg.«
Zanni blickte auf das iPad in ihrem Schoß mit dem Satellitenbild der Umgebung und des einsamen rechteckigen Hauses. Auf drei Seiten umgaben es Weingärten mit langen, geraden Rebenreihen, auf der vierten lag der Wald. Die Ansicht war von einem digitalen Raster mit Ziffern an jedem Kreuzpunkt der hellblauen Linien überlagert. Die Absolutheit der Geometrie half ihr, ihre sich überschlagenden Gedanken einzuzäunen.
»Das Haus ist zweiundzwanzig Meter lang und sechs Meter siebzig breit«, sagte sie. »Dreißig Meter die Straße hoch ist eine Schneise im Wald – wir fahren dort so weit rein, wie wir können, und gehen den Rest zu Fuß. Die kürzeste Strecke vom Waldrand zum Haus beträgt fünfundfünfzig Meter.«
Geiger hörte ihr zu, aber er dachte ans Töten, an den spezifischen Akt. Ganz zu Anfang hatte er beschlossen, das Thema beiseitezuschieben und nicht zu überdenken, bis der entscheidende Augenblick gekommen war. Aber jetzt war es Zeit, sich damit zu befassen und die Möglichkeiten zu ergründen – den zeitlichen Ablauf, die Logistik, die Folgen. Die Situation war geradezu mathematisch rein geworden, so logisch wie eine geometrische Gleichung, und ob Zanni nun glaubte, was er ihr offenbart hatte, oder nicht, spielte keine Rolle. Victor musste sterben, und Geiger konnte die Fragen nach dem Wie und Wann beantworten, indem er sich in Victor hineinversetzte.
Victors wahre Funktion würde sehr bald in den Vordergrund treten, als wäre er ein Schauspieler, der für seine große Szene an die Rampe schritt. Sie bestand darin, Geiger sicher und unversehrt abzuliefern und Zanni zu beseitigen. Deweys Fehlen vergrößerte seine Belastung und seinen Stress, würde ihn aber nicht behindern. Nach Deweys Verschwinden hatte Victor mit Sicherheit eine neue Vorgehensweise ausgearbeitet. Geiger kannte den Typ Mann. Im Laufe der letzten Jahre war er ihm überall auf der Welt immer wieder begegnet. Die Verfolger, die Sucher, die Ergreifer der Joneses, die sie ablieferten und wieder abholten – manchmal die letzten Gesichter, die der Jones je erblickte.
Victor war die Sorte Mann, die gelegentlich als Teil ihrer Aufgaben Menschen tötete – und dann ruhig in ihrem Bett schlief und vielleicht nach einem angenehmen Traum erwachte. Sie verrichteten ihr Werk mit unterschiedlichen Methoden, mit unterschiedlichen Schattierungen der Finsterkeit, aber in einer bestimmten Hinsicht glichen sie einander: Ihnen allen fehlte eine bestimmte neuronale Verbindung im Gehirn, die den einzigartigen Funken des Mitleids erzeugte, das Gefühl der Verbundenheit mit jedem Angehörigen der eigenen Spezies. Vielleicht war sie ihnen ausgebrannt oder ausgebläut oder herausgeschnitten worden – mit einem heißen Draht, einer Faust oder einem Rasiermesser. Vielleicht waren sie auch ohne sie geboren worden. Wie auch immer, ihr Fehlen machte sie sehr gut in dem, was sie taten.
Und Geiger wusste das, weil er während eines großen Teils seines Lebens ein enger Verwandter von ihnen gewesen war.
Zanni trat aufs Gas. In beiden Richtungen war die Straße frei, und sie überquerte die Kreuzung und erreichte den Feldweg. Der Kies schnatterte laut unter den Reifen, und sie schaltete herunter. Dann begann sie, den Weg langsam hinaufzufahren.
29
Sie waren von dem Kiesweg auf einen Feldweg abgebogen, der in den Wald führte, und hatten fünfzig Meter fahren können, ehe die hohen schlanken Kiefern zu eng standen und ihnen den Weg versperrten. Nun starrten Geiger und Zanni einander über die Motorhaube hinweg an, während Victor am offenen Kofferraum stand, Gegenstände aus zwei Koffern nahm und sie in eine schwarze Leinentasche steckte.
Geiger widmete die Hälfte seiner Gedanken Spekulationen darüber, was Victor dachte.
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