Der Experte: Thriller (German Edition)
ihm nicht. »Und die Guten wollen Dad trotzdem immer noch ins Gefängnis stecken.« Er wusste, dass der Nachsatz schwach war, aber ihm gingen die Argumente aus.
»Ich kann aber nicht tatenlos zusehen«, erwiderte sie. »Und wenn die Wahl nur darin besteht, ob dein Vater ins Gefängnis geht oder stirbt, dann ergreife ich diese Chance.«
»Seit wann interessiert es dich, was aus Dad wird?«
Seine Mutter zuckte zusammen. Es lag nicht so sehr an der Kraft des Hiebes als vielmehr an dem wunden Punkt, den er traf.
»Das ist wirklich gemein, Ez – und das weißt du auch.«
Er hatte ihr nicht wehtun wollen. Er war nicht einmal wütend auf sie. Er wusste aber, dass er recht hatte, und es trieb ihn zum Wahnsinn. Er kam sich wie ein Kriegsveteran vor, der jemandem das Kampfgeschehen zu erklären versuchte, der nie gedient hatte. Er war mitten in der Schlacht gewesen. Er hatte Männer sterben sehen, und er hatte die kalten Regeln des Verrats kennengelernt. Er wusste, wie es sich anfühlte, wenn jemand versuchte, ihm das Leben zu nehmen.
Gegen sein finsteres Gesicht konnte er nicht viel machen, doch nun empfand er Reue. »Du hast recht, Mom. Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe.«
Sie neigte den Kopf zur Seite und sah ihn nachsichtig an.
»Ez, ich habe nie so getan, als würde ich verstehen, was du durchgemacht hast – nicht eine Sekunde lang. Du dachtest, du müsstest sterben, und er hat dir das Leben gerettet. Und ich habe keine Ahnung, was man dabei empfindet.« Sie zog den Arm aus dem Gedränge und strich ihm durchs Haar. »Nur dass du es weißt: Ich denke dauernd daran.«
»Das weiß ich, Mom.«
»Also tun wir es und schauen, was sie zu sagen haben.«
Ezra seufzte kopfschüttelnd. »Ich hab dich lieb, Mom, aber du kapierst es echt nicht. Was sie sagen , zählt überhaupt nicht.«
Der Laser-Entfernungsmesser in dem Fernglas zeigte 78,4 m/44 GRD an. Er war auf das einzelne Fenster in der Südwand des Bauernhauses gerichtet, das neunzig Zentimeter breit und einen Meter zwanzig hoch war. Drinnen sah man nur einen kleinen Holztisch mit einer Vase voll Lavendel vor einer Wand, deren Putz die Zeit gelblich gefärbt hatte.
Zanni senkte das Fernglas. Zu dritt standen sie zwischen zwei Bäumen auf der Spitze des Hügels.
»Das Südfenster könnte zu allen möglichen Zimmern gehören«, sagte Zanni.
Victor spähte weiterhin durch sein Fernglas. »Die Haustür scheint aus altem Holz zu bestehen. Die Fenster haben zwei Angeln.« Er reichte Geiger das Glas, der es an die Augen setzte.
In diesem Stadium lauschte er auf jeden Satz, den Victor sprach – und er hörte den Widerhall ausgefeilter Täuschung heraus wie einen auf einem einzigen Instrument leicht falsch gespielten Ton im Klangteppich eines hundertköpfigen Symphonieorchesters. Er fragte sich, wie Victor sich in einer Sitzung schlagen würde, und gelangte zu dem Schluss, dass sie sich lange und ermüdend gestalten würde.
Das Haus war alt, bestand aus Kiefernholz und hatte nur das Erdgeschoss. An der Vorderseite und den Seiten befand sich ein sieben Meter breiter Grasstreifen. Ein paar Meter hinter dem Haus stand ein kleiner Schuppen, dann folgten ein quadratischer Garten und ein Heidefeld – und nach Norden, Süden und Osten erstreckten sich verwilderte Weingärten mit anderthalb Meter hohen Reihen aus toten, verdrehten Weinstöcken, die Grabsteinen auf einem Friedhof glichen. Sobald sie den Wald verließen, konnten sie dort Deckung finden, wenn sie sich duckten oder krochen.
»Höchstwahrscheinlich«, sagte Geiger, »gibt es fünf oder sechs Zimmer mit drei tragenden Innenwänden. In einem so alten Haus bestehen die Innenwände vermutlich aus Mörtel mit dünnen Holzlatten im Abstand von fünfzig bis sechzig Zentimetern. Wenn man an den richtigen Stellen fest dagegenschlägt, halten sie möglicherweise nicht stand.«
Er senkte das Fernglas und wandte sich Victor und Zanni zu, die ihn mit ähnlich verdutzten Gesichtern anblickten.
»Ich weiß, wie man baut«, sagte er und gab Victor das Fernglas zurück.
Zanni hängte sich ihr Glas um den Hals und deutete in eine Richtung. »Ich gehe ein wenig nach Westen und schaue, ob man von dort eine bessere Sicht auf die Rückseite hat.«
Die beiden Männer blickten ihr hinterher. Victor nahm seine Gitanes heraus.
»Sie erlaubt mir nicht, in ihrer Nähe zu rauchen.« Er hielt Geiger das Päckchen hin. Geiger zog eine Zigarette heraus, Victor ebenfalls, schnippte an seinem Feuerzeug und gab ihnen beiden
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