Der Experte: Thriller (German Edition)
auf dem blauen Raster des iPads und hielt inne. »Der nächstgelegene Punkt ist hier.«
Sie drehte sich um und zog in Richtung des Hauses los. Die letzten zehn Meter ging sie geduckt und legte sich vor dem Waldrand auf den Bauch. Die Männer gingen mit ihr, jeder auf einer Seite. Geiger spürte, wie der klebebandumwickelte Messergriff ihm gegen die Brust drückte.
Die Sonne stand am Horizont, und wie ein Schwamm saugte die Dämmerung das Licht aus dem Himmel. In einer halben Stunde würde es dunkel sein, und der Mond schien jetzt schon hell wie eine Glühbirne.
Zanni und Victor hoben die Ferngläser an die Augen.
»Herr Geiger«, sprach sie ihn an. »Was halten Sie von einem gezielten Todesschuss, wenn sich die Gelegenheit ergibt?«
»Es gefällt mir nicht.«
Zanni senkte das Fernglas. »Wieso nicht?«
»Dalton hat Matheson und Harry nicht allein entführt. Er hat wenigstens eine, wahrscheinlich zwei oder mehr Personen, die für ihn arbeiten.« Er beugte sich vor und sah an Zanni vorbei zu Victor hin. »Meinen Sie das nicht auch?«
Victor senkte sein Fernglas. »Ja«, sagte er. »Absolument.«
»Und wo sind sie?«, fuhr Geiger fort. »Drinnen?«
Victor nickte. »Das würde ich annehmen, ja. Es leuchtet ein.«
»Zanni, Dalton von hier auszuschalten, könnte bedeuten, dass im nächsten Moment jemand Matheson und Harry tötet. Würden Sie nicht genau das tun, Victor?«
»Ja, vielleicht. Auch das könnte sinnvoll sein.«
»Wenn sie Ihr Gesicht gesehen hätten, wäre das ein Grund für Sie, sie zu töten?«
»Gewiss.«
Sie hätten sich auch darüber unterhalten können, welche Muster auf einem Halstuch ihnen am besten gefielen.
Geiger richtete den Blick wieder auf Zanni. »Ich bin nicht hier, um das zu verursachen. Das wissen Sie.«
Zanni betrachtete die steingrauen Augen. In ihnen fand sich kein Hinweis, dass er gerade Victor unverfroren vorgeführt hatte, eine Darbietung, bei der er Knöpfe gedrückt und mit Vorstellungen gespielt hatte. Er hatte mit Victor über Victor gesprochen. Sie fragte sich unwillkürlich, wie lange Geiger gebraucht hatte, bis Dewey seine Geheimnisse preisgab.
»Also gut«, sagte sie.
Geiger richtete sich auf. »Wir dringen getrennt aus drei verschiedenen Richtungen ein. Wie Sie bereits sagten, Zanni, erzielen wir dadurch die beste Reichweite und Erkundungsrate. Aber …« Seine Finger erwachten auf den Knien zum Leben und trommelten einen langsamen Beat. »Wenn jemand von Ihnen auf Dalton stößt, werden Sie ihn nicht töten.«
Er drehte den Kopf. Knack. Dann ließ er sich von Zanni das Fernglas geben, legte sich wieder hin und richtete es aufs Haus.
Harry machte eine Liste. »Die zehn allerbesten Tage meines Lebens, eine Top-Ten-Liste in nichtchronologischer Reihenfolge«. Die ersten fünf waren einfach gewesen.
– Im Alter von achtzehn seine Unschuld mit seiner Freundin Abby verloren, in der Wohnung ihrer Eltern, bei Jäger des verlorenen Schatzes auf HBO. Seine Leistung war alles andere als herausragend gewesen, doch es war großartig, diese Bürde endlich loszuwerden.
– Zugesehen, wie Sophie im Lennox Hill Hospital zur Welt kam, nachdem Christine sich dreiundzwanzig Stunden lang in den Wehen gewälzt und immer wieder »Merde!« geknurrt hatte. Nach etwa dreizehn Stunden hatte er begonnen, sie anzuflehen, in einen Kaiserschnitt einzuwilligen oder wenigstens einer Periduralanästhesie zuzustimmen, aber sie hatte sich geweigert. Zwischen außerordentlichen einfallsreichen Flüchen hatte sie den mürrisch-mitfühlenden Gynäkologen wissen lassen, dass sie ihm die Leber mit bloßen Händen herausreißen werde, sollte er auf Harry hören.
– Der Moment nach vier Monaten in seiner ersten Stelle nach dem College, als Rechercheur für die Times , in dem er erfuhr, dass die alten Hasen ihm den Spitznamen »die Schaufel« verliehen hatten, weil er solch ein bemerkenswertes Talent dafür besaß, Informationen auszugraben. Niemals hätte er erraten, wie diese Fähigkeit ihm später nützen sollte.
– Der Abend zu Anfang ihrer Beziehung, als Christine und er in seinem kleinen, unaufgeräumten Wohnzimmer in der 78th Street saßen und unterschiedliche Teile der gleichen Zeitung lasen. Als er aufblickte, hatte er bemerkt, dass sie ihn anstarrte. »Was ist?«, hatte er gefragt. – »Ich hatte einen schwierigen Arbeitstag«, hatte sie geantwortet. – »Wieso?« – »Weil ich dich vermisst habe, Harry. Den ganzen Tag lang. Tu m’as manqué. «
– Die Nacht
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