Der Experte: Thriller (German Edition)

versuchte, nicht zu kichern.
    »Ich glaube, sie versteckt sich«, sagte Christine und blinzelte ihm zu. Harry ging zu ihr, und sie küssten einander flüchtig. »Ich wüsste gern, wo sie ist.«
    »Vielleicht setzt sie ihr besonderes Talent ein und hat sich unsichtbar gemacht«, sagte er.
    »Aber ja, das könnte es sein. Wo, wo, wo ist sie denn nur?«
    Das kleine Mädchen senkte die Hände. Ihr strahlendes Lächeln sprengte alle Messskalen.
    »Ich bin hier!«, rief sie, sprang auf, lachte und eilte in die Arme ihrer Mutter. Sie hatten das gleiche Gesicht – das spitze Kinn, die breite Stirn, die blassblauen, ovalen Augen, die sich zu weiten und zu funkeln schienen, wenn sie sich freute.
    »Du hast also wirklich dein besonderes Talent eingesetzt und dich unsichtbar gemacht. Wie hast du das geschafft?«
    »Daddy hat es mir gezeigt.«
    »Das weiß ich. – Aber wie machst du es?«
    »Na ja … zuerst –«
    »Warte, Sophie«, sagte Harry, beugte sich zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Das kleine Mädchen nickte ernst, während es zuhörte.
    »Mommy«, sagte sie, »Daddy sagt, ich darf es dir nicht sagen.«
    »Nein? Wieso denn nicht?«
    »Weil es nur geht, wenn du nicht weißt, wie ich es mache. Es ist ein Geheimnis.«
    »Dann solltest du es mir wirklich lieber nicht sagen. Ich möchte, dass du dich immer unsichtbar machen kannst, wenn du es willst.« Sie küsste das kleine Mädchen, dann blickte sie Harry an. Ihre blauen Augen strahlten auf, und sie hauchte lautlos: »Ich liebe dich.«
    Mit dem Zeigefinger klopfte sich Dalton behutsam gegen die Unterlippe, während er seine Gedanken ordnete, dann rasten seine Finger über die Tastatur.
    Besessenheit ist ein relativer Zustand. Moral ist es, die die Besessenheit in unserem Geist misst und ihr entgegenwirkt. Jeffrey Dahmer und da Vinci. Himmler und Kubrick. Stalin und Curie. Der Terrorist und der Heilige. Der Irre und der schöpferische Geist. Diese Kraft zu spüren und im Zaum zu halten ist die Grundvoraussetzung für das Streben nach Außergewöhnlichkeit.
    Ich erinnere mich an die Sitzung mit Geiger, in der ich mit ihm über das Streben nach
Meisterschaft
sprach, und inwiefern sie der große Definierer und Gleichmacher ist. Man benötigt keinen akademischen Grad, keinen Reichtum und kein Privileg, um Meisterschaft zu erlangen. Sie verrät uns viel über jemanden, der sie erlangt hat: dass dieser Person eine Leidenschaft innewohnt, die sie an einen Punkt getrieben hat, an dem sie alle Grenzen, an denen die meisten Menschen Halt machen würden, weit hinter sich gelassen hat.
    Nach den Ereignissen jenes Tages bin ich während schmerzerfüllter Monate zu der Erkenntnis gelangt, dass ich Geiger bei weitem nicht gleichkam. Wo er der Meister gewesen ist, war ich der Geselle – kunstlos und prosaisch. Doch ich habe mich neu erschaffen, mich erhöht, während er entschied, seiner Meisterschaft abzuschwören. Und daher möchte ich nun meine Schuld bei ihm einlösen. Ich möchte ihm helfen zu entdecken, wer er wirklich ist.
    Wahnsinn ist also ein relativer Zustand. Und wenn Besessenheit meine rechte Hand ist, so ist der Wahnsinn meine linke.
    Dalton erhob sich und schlenderte zum Fenster. Die vertrockneten Hornissenkadaver, die auf dem Fußboden verstreut lagen, knirschten unter seinen Schuhsohlen. Vor der Fensterscheibe, unter der Traufe des Bauernhauses, hingen mehrere von den großen, summenden Insekten um das riesige, an Pappmaschee erinnernde Nest, dessen verdrehte, bedrohliche Schönheit Dalton wie stets bewegte.
    »Wir sind nicht gleich, Geiger. Aber ganz gewiss gibt es niemanden wie uns. Und Sie haben entschieden, dass wir damit fertig sind. Sie haben es für uns beide entschieden.« Er würgte wie ein Tier, dem ein Knochen im Hals steckt. »Sie dachten, Sie hätten alles zu Ende gebracht. Aber Sie haben nicht begriffen, dass Sie etwas Neues begonnen und es mir überlassen haben, es zu Ende zu bringen.«

19
    Dewey hatte Seiten- und Rückspiegel so eingestellt, dass er das dreißig Meter hinter ihm liegende Hotelfoyer darin beobachten konnte. Das gestattete es ihm, alle paar Minuten die Haltung hinter dem Lenkrad zu wechseln und seine Rückenübungen zu machen, ohne das Ziel länger als eine Sekunde aus den Augen zu verlieren. Die Hüftbewegungen und Rumpfbeugungen waren gut gegen die Verspannungen, die sich einstellten, wenn er zu lange saß.
    Er ging gern die Zahlen im Kopf durch. Mittlerweile hatte er alles unter Dach und Fach – Anzahlung, Renovierung und