Der Faenger im Roggen - V3
an.
Jedesmal wenn ich eine Nebenstraße kreuzen mußte und von dem verdammten Randstein hinuntertrat,
hatte ich das Gefühle, daß ich die andere Straßenseite nicht erreichen könne. Es war, als ob
ich hinunter, hinunter, hinunter sinken müßte und mich kein Mensch je wieder sehen würde. Ich
bekam einen schönen Schrecken. Niemand kann sich das vorstellen. Ich schwitzte wie ein Idiot -
mein ganzes Hemd und die Wäsche und alles wurde tropfnaß. Dann fing ich an, bei jeder Kreuzung
so zu tun, als ob ich mit meinem Bruder Allie spräche.
Ich sagte: »Allie, laß mich nicht verschwinden. Allie, laß mich nicht verschwinden. Bitte
Allie.« Und wenn ich glücklich auf der andern Seite ankam, ohne zu verschwinden, würde ich ihm
danken. Nach dem nächsten Häuserblock fing es wieder von vorne an. Aber ich ging doch weiter.
Vermutlich fürchtete ich mich vor dem Stehenbleiben - ich erinnere mich nicht mehr genau,
ehrlich gesagt. Aber ich weiß noch, daß ich noch fast bis zur Seventeenth Street und weit über
den Zoo hinausging. Dann setzte ich mich auf eine Bank. Ich konnte kaum atmen und schwitzte
blödsinnig. Dort blieb ich ungefähr eine Stunde lang sitzen, glaube ich. Schlußendlich beschloß
ich, wirklich wegzugehen.
Ich wollte nie mehr nach Hause und nie mehr in eine Schule gehen. Nur Phoebe wollte ich noch
einmal sehen und mich von ihr verabschieden und ihr das Geld zurückgeben, und dann wollte ich
nach Westen trampen. Ich dachte, ich könnte zum Holland Tunnel gehen und mich dort von einem
Auto mitnehmen lassen und dann vom nächsten und so weiter, bis ich nach ein paar Tagen irgendwo
im Westen ankäme, wo es schön und sonnig wäre und mich niemand kennen würde. Dort fände ich
sicher Arbeit in irgendeiner Tankstelle und könnte den Leuten Benzin und Öl in ihre Autos
füllen, dachte ich. Es war mir auch gleichgültig, welche Art von Arbeit ich finden würde.
Wenn mich nur niemand kannte und ich auch keinen Menschen kannte. Ich dachte mir aus, daß ich
mich taubstumm stellen würde. Auf diese Weise brauchte ich keine verdammten, blöden, nutzlosen
Gespräche mit irgend jemand zu führen. Falls jemand mir etwas mitzuteilen hatte, mußte er es
eben auf einen Zettel schreiben. Das würde die Leute bald langweilen, dachte ich, und dann
hätte ich für den Rest meines Lebens alle Gespräche hinter mir. Alle würden mich für einen
armen taubstummen Hund halten und mich in Ruhe lassen. Ich müßte nur Benzin und Öl in ihre
blöden Autos füllen und bekäme ein Gehalt dafür, und von dem verdienten Geld würde ich mir
irgendwo eine kleine Blockhütte bauen und dort für den Rest meines Lebens bleiben.
Die Hütte müßte am Waldrand stehen, aber nicht im Wald drinnen, damit sie immer ganz sonnig
wäre. Ich würde mir selber kochen, und später, falls ich heiraten wollte oder so, würde mir
dieses schöne Mädchen begegnen, ebenfalls eine Taubstumme, und wir würden heiraten. Sie würde
zu mir in die Blockhütte ziehen, und wenn sie mir etwas zu sagen hätte, müßte sie es auf einen
verdammten Zettel schreiben, so wie alle andern auch. Falls wir Kinder bekämen, würden wir sie
irgendwo verstecken. Wir könnten ihnen viele Bücher kaufen und sie selber Lesen und Schreiben
lehren.
Diese Vorstellung erregte mich. Im Ernst. Ich wußte zwar, daß der Punkt mit der angeblichen
Taubstummheit verrückt war, aber die Vorstellung gefiel mir doch sehr. Jedenfalls war ich
entschlossen, nach dem Westen zu fahren. Ich wollte mich nur vorher noch von Phoebe
verabschieden, sonst nichts. Deshalb rannte ich plötzlich wie besessen über die Straße - ich
wurde dabei fast überfahren, falls das jemand interessiert - und kaufte in einem
Schreibwarengeschäft einen Notizblock und einen Bleistift. Ich wollte Phoebe schreiben, wo sie
mich treffen solle, damit ich mich von ihr verabschieden und ihr das Weihnachtsgeld zurückgeben
könne, und dann wollte ich mit dem Blatt in die Schule gehen und jemanden im Büro bitten, es
ihr zu geben. Vorläufig steckte ich Notizblock und Bleistift nur in die Tasche und lief so
schnell ich konnte in ihre Schule. Ich war zu aufgeregt, um die Nachricht schon in dem Geschäft
zu schreiben. Ich beeilte mich deshalb so, weil sie meine Botschaft bekommen sollte, bevor sie
zum Essen heimging, und es war schon ziemlich spät.
Natürlich wußte ich, wo die Schule war, weil ich selber früher auch dorthin gegangen war. Als
ich hinkam, hatte ich ein komisches Gefühl. Ich
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