Der Falke von Aryn
das Leben nicht eben ungefährlich war.
Er hatte sie schützen wollen, mit aller Kraft, das war der Grund für diese endlosen Kämpfe zwischen ihnen gewesen, und er hatte darin versagt. So wie Raphanael sich fühlen musste, auch wenn es der Götter Wille gewesen war.
Lorentha unterdrückte einen Seufzer, sie hatte den ersten Schritt getan, bald würde ihre Nachricht ihren Vater finden, nur dass sie jetzt wünschte, sie hätte ihm mehr geschrieben, ihm gesagt, dass sie ihn inzwischen verstand. Es war so ungerecht, dachte sie, als sie auf den Vater und das Kind herabsah. Raphanael hatte es anders gehandhabt als seine Standesgenossen, hatte seine Tochter in seinem Herzen getragen und nicht der Dienerschaft überlassen, es, in ihren Augen, somit richtig getan. Das sollte jetzt der Lohn dafür sein? Schmerz und Verzweiflung? Götter, dachte sie. Isaeth, du stehst für Gnade ein, und du hast solches zugelassen?
Doch dann spürte sie, wie sich ihre Haare aufstellten, Raphanael sah ebenfalls auf, als spüre auch er etwas, und ein Windstoß schien zwischen ihnen hindurchzugehen.
Nur Raban sah, wie Mort sich zwischen Lorentha und Raphanael hindurchdrängte und sich vor den verzweifelten Vater kniete, um unter seine Jacke zu greifen und eine kleine Phiole herauszuziehen, während die anderen um ihn herum ihn weder zu sehen schienen noch sich bewegten. Mort zog den Stöpsel mit seinen Zähnen und öffnete dem Kind den Mund, um die Phiole zwischen den blassen Lippen zu entleeren. Sorgsam und in aller Ruhe steckte er die Phiole wieder ein, zog einen Handschuh aus und legte seine Hand dem Mädchen auf die Stirn. Er sah zu Raban hin. Und zwinkerte ihm zu.
Arin hustete und öffnete die Augen, musterte die ungläubigen, tränennassen Gesichter um sie herum. »Vater, meine Hand tut weh«, beschwerte sie sich. »Obwohl sie nicht mehr da ist.«
»Es wird besser werden, ich verspreche es«, gab Raphanael erstickt Antwort.
»Es ist schon besser«, sagte sie, als ob sie ihn trösten wollte, und zog an seinem Arm, sodass er den verzweifelten Griff um sie löste und sie sich in seinen Armen aufrichten konnte, um sich suchend umzusehen. »Wo ist der Mann mit diesem Hut?«, fragte sie.
»Schatz«, sagte die Baroness heiser. »Niemand hier trägt einen Hut.«
Arin sah sich noch einmal um und nickte, um sich dann ihren Armstumpf anzusehen. »Er versprach mir, dass er wiederkommen wird. Wenn ich alt genug bin und nicht mehr wachsen werde. Dann will er mir eine neue Hand geben, besser als die, die ich verlor.«
»Es war kein Mann da«, sagte Raphanael leise. »Das musst du dir eingebildet haben.«
Sie schüttelte ihren Kopf, während sie ihren Stumpf vorsichtig betastete. »Es tut schon fast nicht mehr weh«, stellte sie erstaunt fest. »Nur die Finger kribbeln.« Sie sah zu ihrem Vater hoch. »Er war da, Vater. Er nannte sogar seinen Namen. Mort.«
Die Baroness erbleichte, um sich sogleich zu ihrer Enkelin vorzubeugen. »Wenn es Mort war, dann war er da … und ist wieder gegangen. Aber es ist ein Geheimnis, von dem du niemandem erzählen wirst, verstanden?«
Arin nickte und zupfte an ihrem blutigen Verband herum.
»Mutter«, flüsterte Raphanael leise über Arins Kopf hinweg. »Setz ihr keine Flausen in den Kopf.«
»Vielleicht hat sie den Tod ja doch gesehen«, sagte Barlin rau und sah sich um, als stände dieser direkt hinter ihm. »Auf jeden Fall hat sie in einem recht, er war da und ist gegangen.« Er sah durch die Tür ins Haus, wo sich seinen Augen ein Schlachtfeld bot. »Wir haben ihm ja eine Auswahl dagelassen, er hatte genug, die er an ihrer statt hat nehmen können.«
»Wer ist dieser Mort, von dem Arin sprach?«, fragte Lorentha später die Baroness. »Ihr scheint zu wissen, wen sie meint.«
»Mortus. Gevatter Tod«, antwortete die Gräfin tonlos. »Angeblich ist dies sein Name. Manchmal, heißt es, entscheidet er, jemanden nicht zu holen, weil es vor der Zeit ist. Es sind alte Ammenmärchen … aber …«
Lorentha nickte langsam. Sie schaute zum Haus zurück. Barlin hatte recht. Sie hatten ihm mehr als genug zu holen dagelassen.
»Ich habe ihr versprochen, sie aufzusuchen, wenn sie erwachsen ist«, sagte der alte Mann mit rauer Stimme zu Raban. Er zog am Sattelgurt seines Pferdes und schwang sich in den Sattel. »Ich versprach ihr eine neue Hand. Es sind ein paar Jahre bis dahin, sollte ich es nicht mehr können, wirst du mein Versprechen halten.«
Raban nickte und stieg ebenfalls auf sein Pferd. Dann stutzte er.
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