Der Falke von Aryn
diese Frage stellt.« Sie ließ ihren Blick bedeutungsvoll zu dem blütenweißen Tuch auf dem Altar schweifen, auf dem ganz offensichtlich kein Weinfleck zu erkennen war. »Also achtet darauf, dass Ihr nichts sagt, was Ihr bereuen werdet.«
Für einen Moment sah es aus, als ob der Kardinal ihr widersprechen wollte, doch dann riss er sich mit sichtlicher Mühe zusammen, bedachte Lorentha noch mit einem bösen Blick und nickte knapp.
Larmeth wartete noch einen Moment, doch der Kardinal beschränkte sich nur darauf, durch seine Haltung seinen Unwillen auszudrücken, während Bruder Alfert die Situation hochnotpeinlich war, und er nicht zu wissen schien, wohin er schauen sollte.
»Gut«, sagte die Priesterin und wandte sich ihrem Bruder zu. »Nachdem dies geklärt ist, hoffe ich doch sehr, dass es dir neue Erkenntnisse bringt, wenn wir schon die Totenruhe des armen Ferdis derart haben stören müssen.«
Raphanael bedachte den Kardinal mit einem letzten harten Blick und nickte knapp.
»Es hat uns schon jetzt etwas gebracht«, meinte er dann und trat näher an den toten Novizen heran, bevor er die beiden Priester fragend anschaute. »Er lag genau so auf dem Zaun?«
»Ja«, sagte der Kardinal in einem Tonfall, der seinen ganzen Widerwillen zum Ausdruck brachte.
»Nicht ganz«, wagte Bruder Alfert zu widersprechen. »Er lag tiefer … wir … wir haben es nicht übers Herz gebracht, ihn noch einmal in diesen Zaun zu drücken. Vielleicht … sein linkes Bein war etwas stärker angewinkelt, aber sonst entspricht alles dem, wie ich es erinnere.«
»Wie tief?«, fragte Raphanael sanft. »Bis hierhin?«, fragte er und deutete mit dem Finger auf den Zaun.
»Tiefer«, gestand der alte Priester. »Bis zum Quereisen … die Lanzenspitze hat ihn fast vollständig durchbohrt.«
Lorentha war mittlerweile auch an den Toten herangetreten und besah sich jetzt die schmiedeeisernen Lanzenspitzen genauer. »Sie sind stumpf«, stellte sie fest und sah dann zu den anderen hoch. »Niemand kann jemanden so tief in einen doch recht stumpfen Zaun drücken. Und das bedeutet …« Sie sah nach oben, wo über ihnen die Hand der Göttin den Falken trug.
»… dass er gefallen ist«, nahm Raphanael ihren Gedanken auf. »Von dort oben. Er war dort oben bei dem Falken, die Fallhöhe dürfte in etwa der Wucht des Aufschlags entsprechen.«
»Nein«, widersprach der Kardinal und schüttelte entschieden den Kopf. »Junker Ferdis war zwar nur ein Novize, aber ich weiß, dass er die Göttin mit Inbrunst liebte, er hätte sie niemals so entweiht! Er hätte an ihr hochklettern müssen!«
Raphanael sah hinauf zu der Statue der Göttin, die mit ruhiger Gelassenheit in die Tempelhalle schaute. Es war leicht zu erkennen, was der Kardinal meinte, die Robe, die der Steinmetz ihr gegeben hatte, war leicht und dünn und schmiegte sich an die schlanke Form der Göttin an. Wollte man an ihr emporklettern, boten sich nur bestimmte Punkte als Handgriff an.
»Ihr erlaubt?«, fragte Lorentha und wies auf eine der zwei Kerzen, die auf dem Altar standen. Wortlos nickte die Priesterin, und Lorentha nahm eine der Kerzen auf, um sie in die Höhe zu halten.
»Dennoch ist genau das geschehen«, stellte sie dann sanft fest. »Schaut, hier … und hier …« Sie hielt die Flamme an die Stellen heran, damit auch die anderen sie besser erkennen konnten. »An diesen Stellen ist die Farbe abgeplatzt oder gerissen, und dort am Ausschnitt ihres Gewandes …« Sie sprach es nicht aus, aber jetzt, da der Kerzenschein der Göttin so nahe war, konnte jeder den Handabdruck erkennen … und woran genau sich der Junker da geklammert hatte.
Auch der Kardinal, der für den Moment zu vergessen haben schien, dass er Lorenthas Anwesenheit nicht dulden wollte, konnte den Handabdruck am Busen der Göttin sehen, dennoch schüttelte er immer noch den Kopf. »Ferdis hätte das nicht gewagt«, beharrte er mit gebrochener Stimme. »Niemals hätte er das getan! Das ist Blasphemie!«
»Sagen wir, nicht ohne einen guten Grund«, meinte Raphanael ruhig. »In etwa zu diesem Zeitpunkt wurde der Falke ja gestohlen.«
»Auch das ist mir nicht verständlich«, sagte der Kardinal und zog ein Tuch aus seiner Tasche, um sich abwesend das Gesicht abzutupfen. »Im letzten Jahr haben wir fast drei Stunden gebraucht, um die beiden Falken auszutauschen, doch zwischen Mitternacht und der Vigil haben sie kaum Zeit dazu gehabt!«
Sowohl Lorentha als auch Raphanael und seine Schwester sahen den Kardinal
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