Der Falke von Aryn
verlassen, spielten jetzt Kinder, von denen einige, zum Leidwesen des Kutschers, versuchten, ein Stück mitzufahren, nur um von ihm mit drohenden Gesten und lauten Flüchen davongescheucht zu werden.
Nichts war, wie es schien, so konnte sie ihre Erfahrungen der letzten Tage hier in Aryn zusammenfassen.
Sie sehnte sich nach der Ordnung und der Sicherheit ihres Kommandos in der Hauptstadt, dort hatte sie immer gewusst, was zu tun war, es gab Regeln und Pläne, Vorschriften und, vor allem, ihre Kameraden, von denen sie wusste, dass sie sich auf sie verlassen konnte.
Ein Gedanke kam ihr. »Sagt, Kutscher, wisst Ihr, wo sich die Kommandantur der Garda befindet?«
»Hrgh.«
Da er dabei nickte, war es vermutlich seine Art, Ja zu sagen. »Dann fahrt mich dorthin.«
Er gab nur ein weiteres Grunzen von sich und schien sonst nicht zu reagieren, doch als sie den Fuß der langen Tempelstraße erreichten, bog er nicht ab, sondern fuhr geradeaus weiter, offenbar hatte er sie also doch vernommen.
In ihrer Erinnerung war die Garda ein Ort, den man meiden musste. Hohe Mauern mit Zinnen wie bei einer Festung umschlossen ein Areal, in dem sich ein großes dreistöckiges Gebäude mit einem steilen Schieferdach und zwei dreiviertelrunden Türmen an den beiden vorderen Ecken befand, mit einer breiten Freitreppe, die zu einer von Soldaten bewachten Tür führte. Rechts davon befand sich der Exerzierplatz, und weiter hinter dem großen Haus hatte sie durch die schmiedeeisernen Stäbe des Tors so etwas wie einen Garten und ein kleineres Haus erkennen können, aus dessen Schornstein damals Rauch aufgestiegen war. Sie erinnerte sich daran, dass ihr dieses kleinere Haus gefallen hatte, es sah so gemütlich aus, und sie sich gewünscht hatte, irgendwann auch einmal in einem solchen Haus zu wohnen.
Das Haus Sarnesse mochte nicht mehr den Einfluss besitzen, den es einst besessen hatte, aber es war reich, ein Umstand, den es der vorteilhaften Heirat ihrer Mutter verdankte. Ihr Vater stammte aus einer Händlerfamilie, die in drei Generationen genügend Reichtum angehäuft hatte, um nach Höherem zu streben. In das Haus Sarnesse einzuheiraten, auch wenn es für ihren Vater bedeutete, seinen eigenen Namen aufzugeben, war ihm vielleicht als ein gangbarer Weg erschienen, Zugang zum Adel zu erhalten, aber nach allem, was sie von ihren Eltern wusste, war es tatsächlich eine Liebesheirat gewesen. In ihren Kindheitserinnerungen sah Lorentha ihre Eltern beständig lachen und aneinanderhängen, nur wenn ihre Mutter immer mal wieder für längere Zeit verschwand, um den geheimnisvollen Verpflichtungen einer Walküre nachzukommen, war das Lachen aus den Augen ihres Vaters verschwunden, er hatte sich in seine Arbeit gestürzt, um die Sorge um sie zu bekämpfen, und erst wenn ihre Mutter unbeschadet nach Hause kam, kehrte auch sein Lachen wieder zurück.
Als er seinerzeit die Nachricht vom Tod seiner Frau und dem Verlust der Tochter erhalten hatte, musste es ihn hart getroffen haben, denn als sie sieben Jahre später auf so wundersame Weise von den Toten auferstanden war, hatte sie ihren Vater kaum noch wiedererkennen können. Der Mann, den sie in ihrer Erinnerung so oft lachend gesehen hatte, war in diesen sieben Jahren gealtert, war dünn und hager geworden, mit tiefen Furchen, die sich in sein Gesicht gegraben hatten. Er schien nicht mehr zu wissen, was er seiner Tochter hätte sagen können, mied jedwede Berührung, und wenn er sie ansah, dann nur verstohlen, wenn er glaubte, sie würde es nicht bemerken. Andere Männer hätten sich vielleicht dem Trunk ergeben, doch die Sucht ihres Vaters war die Arbeit … und Regeln. Feste Regeln, solche, die unbedingt eingehalten werden mussten, Regeln, die ihm einen Halt gaben, ohne den er zusammengebrochen wäre.
Mittlerweile waren die Sarnesse wieder bekannt im Reich, nicht mehr für ihre einstigen großen Taten und Verdienste für das Kaiserreich, sondern für das schon fast legendäre Vermögen, das ihr Vater angehäuft hatte, als wäre Gold das Einzige, das ihm noch etwas wert wäre. Nur dass es ihm nichts bedeutete. Für sie sah es aus, als wäre er in etwas gefangen, als ob er nicht ausbrechen könnte, als ob er es nicht ertragen könnte, auch nur einen Lidschlag lang nicht beschäftigt zu sein. Er selbst hatte ihr in einem der wenigen Momente der Zuneigung gestanden, dass er sich getrieben fühlte, aber nicht wüsste, wohin es ihn zwang.
Vielleicht, weil es eine Sarnesse gewesen war, die als Erstes die
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