Der Falke von Aryn
Ich fand mich nicht weit von hier wieder, dort hinten«, sie wies in eine kleine Gasse an der Seite. »Ohne zu wissen, wer ich war und wie ich dorthin gekommen bin. Jemand fand mich und half mir … doch es war nicht einfach, zu überleben. Ein paar Jahre später kam ein Hurenfänger auf mich zu … er sagte, es gäbe jeden Tag warmes Essen, feine Kleider und ein warmes Zimmer auch im Winter, und ich bräuchte mich um nichts zu kümmern.« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Wenn man nichts im Magen hat, hört sich so etwas verlockend an.«
»Und wie …?«, fragte Raphanael zaghaft.
»Ich entging dem nur, weil ich so gut stehlen konnte. Ich habe schon immer recht flinke Hände gehabt«, antwortete sie rau. »Und dann stürzte ich ins Hafenbecken. Ich stieß mir an einem treibenden Balken den Kopf und wusste wieder, wer ich war. Für eine Zeit vergaß ich dann sogar, was in den Jahren dazwischen geschehen war. Aber so etwas lässt sich nicht vergessen, die Erinnerung kam bald darauf zurück. Nun, seitdem weiß ich, wie es ist, so verzweifelt zu sein, dass man daran denkt, sich selbst zu verkaufen.«
»Ist das der Grund, weshalb Ihr dem Adel so viel Verachtung entgegenbringt?«, fragte Raphanael sanft.
Sie lachte bitter. »Ist Euch das schon aufgefallen?«
»Nein«, sagte er ernsthaft und drückte ihre Hand, die er zu ihrem Erstaunen noch immer hielt. »Ich kann mich über Euch nicht beschweren. Aber ich habe Erkundigungen eingezogen. Ihr habt Euch einen Namen damit gemacht, denen auf die Füße zu treten, die ihre Privilegien missbrauchen.«
»Privilegien, an die ich nicht glaube«, gab Lorentha grimmig zurück. »Was haben die meisten Adeligen schon dafür getan?«
»Vielleicht nicht viel«, entgegnete Raphanael ernsthaft. »Aber oftmals ist ein Titel eine Belohnung für etwas, das jemand einst getan hat. Ich weiß, was Ihr meint, aber ich habe eine Tochter, Lorentha. Sie heißt Arin, und sie ist fast neun Jahre alt. So alt, wie Ihr es wart, als das Schicksal Euch ereilte. Ich sage Euch eines: Ich würde alles dafür tun, dass sie nicht in die Situation gerät, eine solche Wahl treffen zu müssen wie Ihr damals. Oder wie Marbeth es wohl tat. Ich bin froh, dass meine Tochter von Adel ist und ihr das erspart bleiben wird. Ich glaube nicht, dass Ihr mir das verdenken werdet. Die Götter haben die Stände so gefügt, nicht alle Menschen können gleich sein. Vergesst nicht, der Adel erfüllt einen Zweck, er schützt die, die ihm Untertan sind, und hält sie in Arbeit und Brot.«
»Es ehrt Euch, dass Ihr so denkt. Und Euch um Eure Tochter bemüht. Aber Ihr solltet einmal in die Hauptstadt reisen«, antwortete sie bitter. »Schaut, ob Ihr dort jemanden findet, der es genauso sieht.«
Jetzt blieb er stehen und bedachte sie mit einem harten Blick. »Seid Ihr sicher, dass Ihr nicht ungerecht seid? Es gibt viele, die ihre Pflichten ernst nehmen. Auch in der Hauptstadt. Bevor Ihr fragt, ja, ich war dort. Schon öfter, ich besitze sogar Freunde dort. Es gibt überall rechtschaffene Menschen und solche, die es nicht sind.«
»Nur führt Macht zu oft zu Missbrauch. Sagt mir, was ist gerecht daran, dass ich einen Bauern erschlagen kann, ohne dass ich zur Rechenschaft gezogen werde?«, fragte sie bitter.
»Käme es nicht auf die Umstände an?«
»Dem Recht ist es egal. Es gilt so oder so.«
»Ja«, sagte er leise. »Aber Ihr habt eben gefragt, ob es gerecht ist. Und das kommt darauf an, was geschehen ist. Es kommt immer darauf an. Mein Vorfahr war selbst ein Bauer, bis er sich den Titel erkämpfte.« Ob er damit gerecht entlohnt wurde, stand auf einem anderen Blatt.
»Jetzt seid Ihr von Adel«, erinnerte sie ihn kühl. »Was ist bei Euch der Grund?«
»Ich nehme meine Pflichten wahr«, erwiderte Raphanael ebenso kühl. »Von denen ich mehr habe, als Ihr zu glauben scheint. Macht bedeutet Verantwortung. Gerade weil sie so leicht zu Missbrauch führt. Streitet nicht mit mir, Lorentha. Sonst besteht Gefahr, dass Ihr mir auf die Füße tretet. Dazu habt Ihr keinen Anlass.« Er ließ ihre Hand los und bedachte sie mit einem harten Blick. »Fühlt Euch nicht zu edel, Baroness, dafür, dass Ihr auf Eure Privilegien verzichtet. Habt Ihr schon daran gedacht, dass Ihr es tut, weil Ihr auch die Verantwortung scheut?«
Lorentha blinzelte. Er hatte recht, sie suchte keinen Streit mit ihm. »Ich …«, begann sie, doch er unterbrach sie brüsk.
»Ich muss in den Tempel zurück, um den Falken dort mit einem Zauber zu versehen,
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