Der Falke von Aryn
klappte ihren Fächer auf, während ihre scharfen Augen die Menge absuchten.
»Er hat recht, es ist ein erstaunliches Gedränge für diese frühe Stunde. Cerline und die Majorin sind noch nicht da, die übliche Traube, die sich sonst um Cerline schart, hat sich noch nicht gebildet.«
»Sei freundlich, Mutter«, bat Raphanael mit einem Lächeln.
»Keine Sorge, Sohn«, gab sie ihm mit blitzenden Augen Antwort. »Ich habe bereits jemanden gesehen, der sich wohltuend von der üblichen Meute abhebt. Der Herr dort hinten mit den grauen Schläfen und der steifen Haltung, weißt du, wer er ist?«
Raphanael nickte. »Das ist Kapitän Sturgess. Ein Kaiserlicher, aber nur Bürger. Er besitzt vier oder fünf Schiffe und gilt als sehr verlässlich. Gut für Simer, dass er auch solche Leute eingeladen hat.«
»Hm«, meinte seine Mutter. »Warum habe ich ihn noch nie zuvor gesehen?«
Raphanael lachte. »Schau dir an, wie steif er sein Glas festhält, ich nehme an, er ist zum ersten Mal auf einem solchen Ball.«
»Weißt du mehr über ihn?«
»Er besitzt einen untadeligen Ruf, und seine Frau ist erst vor einem halben Jahr gestorben«, meinte Raphanael lächelnd und zuckte mit den Schultern. »Mehr weiß ich nicht über ihn.«
»Du hast recht«, meinte seine Mutter mit einem Funkeln in den Augen. »Er sieht aus, als ob er darauf hofft, dass ihn irgendwer mit einem Gnadenstich erlöst. Ich denke, ich werde ihn retten gehen …«
»Gute Jagd, Mutter«, lachte Raphanael und sah ihr nach, als sie einen geraden Kurs auf ihr Ziel anlegte. Sein Vater war nun schon seit über fünfzehn Jahren tot, und er wusste, wie sehr sie männliche Gesellschaft vermisste.
Raphanael tat, was er bei solchen Gelegenheiten immer tat, er blieb in Bewegung, wechselte hier und da ein Wort mit Bekannten und sah zu, dass keine der Damen ihn in eine Ecke drängen konnte. Lord Simer war mit Recht stolz auf seinen Ballsaal, der mit hohen Türen und Spiegeln und reichen Deckengemälden tatsächlich sehr eindrucksvoll war, aber es war ein warmer Tag gewesen, und die Gäste und die Wärme von Hunderten von Kerzen führten bald dazu, dass die Hitze unerträglich wurde. Manchmal, dachte Raphanael, während er sich von dem Tablett eines Dieners ein Glas stahl, beneidete er die Damen um ihre leichten Kleider, welche ihre Reize vorteilhaft zur Schau stellten, während sich die Herren zumeist in Jacken zwängen mussten, an denen man nicht einen Knopf lösen durfte, ohne gleich dafür mit Missbilligung gestraft zu werden.
Manchmal allerdings kam er sich auch gejagt vor, so zum Beispiel, als gleich drei Mütter ihre Töchter zum konzentrierten Angriff anleiteten. Bevor er es sich versah, war er eingekesselt und zugleich von der Front und von den Flanken her bedroht. Während er versuchte, sich aus dem Hinterhalt zu befreien, blieb ihm allerdings nichts anderes übrig, als sich den Regeln zu beugen, und so musste er ertragen, wie eine der jungen Damen ihn fragte, ob Manvare denn weit weg wäre. Da ein Schritt durch eines der drei Stadttore die junge Dame bereits schon in dieses ferne, exotische Land verschlagen hätte, hatte er Mühe, gelassen zu bleiben. Er beschränkte sich auf ein »Nein, Sera, nicht weit« und wies dann wahllos in die Menge. »Euer Herr Vater scheint sich an irgendetwas zu stören.«
Während sie sich erschreckt umsah und so die Umlagerung gebrochen wurde, ergriff er die Gelegenheit zur Flucht und rettete sich in die Eingangshalle, während er sich wünschte, Lorentha würde sich beeilen. Auch wenn seine Mutter recht behalten sollte und sie kein Interesse an ihm hatte, konnte man sich mit ihr doch wenigstens über vernünftige Dinge wie Raub, Mord oder Aufstände und vielleicht, mit etwas Glück, über Pferde unterhalten, ohne dass er dabei vor Langeweile starb.
Sein Wunsch wurde erhört. Während er sich suchend nach einem Diener umsah, um ihm sein leeres Glas zu geben, wurde die Eingangstür geöffnet und eine gewisse Gräfin Alessa zusammen mit Baroness Sarnesse angekündigt. Wie die meisten Damen trug sie bei ihrer Ankunft einen Umhang, doch als sie ihn mit einem Lächeln ablegte, um ihn an das Mädchen weiterzureichen, trug sie darunter keines der Ballkleider, sondern eine Robe in schwarzer Seide und dunklem Rot. Der Schnitt der Robe war schon seit Jahrhunderten aus der Mode, doch die breiten Schultern und der hohe Kragen gaben ihr etwas Erhabenes, und der breite schwarze Gürtel betonte ihre Taille. Unter der Robe trug sie eine weiße
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