Der Fall Carnac
gestellten Scheibe.
Peter untersuchte das Glas. Es war mit einem gewöhnlichen Glaserdiamanten viereckig herausgeschnitten und dabei gewiß mit einer kräftigen Sauggummischeibe gehalten worden. Nichts war leichter als das!
Die beiden Jungen hängten den Fensterladen wieder ein. Er drehte sich geräuschlos in den Angeln. Ein kräftiger Haken befestigte ihn an dem zweiten Laden. Aber eine starke Messerklinge genügte, ihn aus den Angeln zu heben.
In dem Punkt war alles klar.
Kikri lief in der Küche umher. Er hatte keinen großen Hunger und wirkte matt. Immer wieder rieb er den Schnabel auf dem Boden, bald die eine, bald die andere Seite.'
»Kein Wunder! Er hat schlecht geschlafen.«
Genoveva, die endlich aufgestanden war, behauptete, sie habe ihn die ganze Nacht krähen hören.
Als ob der Hahn ihr darauf antworten wollte, stieß er ein heiseres Kikeriki aus.
»Wir müssen ihn einsperren«, sagte Anne, »der Briefträger wird gleich kommen.«
Kikri wurde ins Hühnerhaus gebracht.
Gegen neun Uhr rief Mama an. In Vannes gehe alles gut. In der Überholwerft ebenso. Alles in Ordnung. Und das war die Wahrheit. Nun — wenigstens beinahe die Wahrheit.
Es war wie nach einem heftigen Gewitter, das lange Zeit in der Luft gelegen hatte. Als es endlich ausgebrochen war, atmete die ganze Natur auf.
So war es auch in der Überholwerft. Die Angreifer hatten eine bittere Abfuhr einstecken müssen. Und nun war Schluß. Sie würden ihren Versuch nicht mehr wiederholen.
»Sie werden woanders anfangen«, sagte Ludwig. »Bei uns haben sie genug.«
Davon waren alle überzeugt. Selbst Line teilte die Ansicht ihrer Freunde. »Aller guten Dinge sind drei, sagt man. Und das war der dritte Versuch.«
Und trotzdem! Dieses Gefühl, das sich nicht erklären ließ. Das Gefühl, daß etwas nicht zu Ende geführt war.
Der Briefträger brachte einen Brief von Mama aus Madrid. Papa hatte die persönliche Verbindung mit dem leitenden Bibliothekar aufgenommen, der ihm die Forschungen in jeder Hinsicht erleichterte. Papa hatte bereits mehrere Urkunden gefunden, die sich auf den berühmten Don Manuel de Espinola bezogen. Endlich konnte er seine Geschichte der Stadt Le Cateau abschließen.
Madrid sei eine sehr angenehme, lebendige Stadt, doch im Hinblick auf die berühmte Puerta del Sol habe sie sich getäuscht; das sei nichts als ein kleiner Platz wie jeder andere.
Anne und Line stellten eine Liste der Dinge auf, die besorgt werden sollten. Peter und Ludwig wollten in die Stadt fahren und auch gleich eine Scheibe mitbringen, die die herausgeschnittene ersetzen sollte. Einen Glaser brauchten sie dazu nicht, übrigens wäre der für eine so kleine Arbeit auch gar nicht gekommen.
Sie mußten die Scheibe ausmessen, dazu gingen alle wieder in den Salon.
Kikri, den die Kleinen aus dem Hühnerhaus herausgelassen hatten, als der Briefträger dagewesen war, stolzierte am Ort seiner Heldentaten umher; er trippelte vorsichtig durch das Zimmer und wandte den Kopf immer wieder nach rechts und nach links, als ob er voller Mißtrauen gegen die Schatten um ihn her wäre. Mit Hilfe eines Zollstocks bemühten sich die Jungen, die genauen Maße der Scheibe festzustellen. Das war keine leichte Sache, und die Maße, die beide nahmen, stimmten nicht überein. Da mußte Anne kommen und ihnen helfen.
Als Line die drei rufen und lachen hörte, dachte sie: >Man könnte meinen, es sei überhaupt nichts passiert; sie haben schon alles vergessen.< Sie selbst jedoch konnte ein Unbehagen nicht überwinden. Dauernd gingen ihr die verschiedensten Fragen durch den Kopf.
>Wer sagt denn, daß es jetzt zu Ende ist, daß keine neuen Versuche unternommen werden? Weshalb sollten die Unbekannten, die ein so großes Verlangen, ins Haus einzudringen, gezeigt haben, nun darauf verzichten? Was suchen sie? Haben sie etwas Bestimmtes im Auge, oder wollen sie nur stehlen, ganz gleich was?< »Worüber denkst du nach?« fragte Anne und drückte ihren Arm.
»Über das alles«, erwiderte Line und wies auf das Fenster, den Salon und Kikri, der sich wieder heftig den Schnabel kratzte.
Die Jungen waren abgefahren, Gerhard und Genoveva schaukelten an dem dicken Zedernast. Die Sonne fiel hell ins Zimmer, warf ihr Licht auf die Möbel und spiegelte sich in den Kupfergeräten und den alten Vergoldungen.
Selbst Kikri wirkte, als sei er neu angestrichen, so bunt schillerte sein Gefieder.
Später erinnerte sich Line genau dieses Augenblicks, in dem das Abenteuer, das die Kinder schon
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