Der Fall D. - Eine Stalkerin packt aus
gespielt haben. Ich warf den Ranzen in die Ecke und
rannte und rannte und rannte.
Er
stand an der Musikbox. Happy Birthday von Lionel Richy lief, ich weiß es
noch genau. Ich sah, wie er zusammenzuckte, als ich zur Tür reinkam. Unsere
Blicke trafen sich kurz. Jahre später erzählte er mir, dass er damals panische
Angst gehabt hat, dass sein Onkel etwas mitbekäme. Ich setzte mich mit
zitternden Knien an die Theke und blieb so lange, bis sie wieder fuhren.
Irgendwann,
im Sommer des darauf folgenden Jahres klingelte bei uns das Telefon. „Daniela,
für dich. Milosh ist dran.“ Meine Mutter überreichte mir den Hörer, um sich
dann schnell zurückzuziehen. Ich war wie in Trance. „Hallo Daniela. Ich kann
nicht lange sprechen. Hab mich heimlich abgesetzt. Ich bin im Nachbarort. Mein
Onkel hat sein Karussell hier stehen. Ich muss Schluss machen.“
Was
in mir vorging, ist nicht zu beschreiben. Ein überdimensional großer Magnet zog
an mir und ich war wie ausgeknockt. Ich rannte in die Garage, um mir das Fahrrad
meiner Mutter zu holen, und fuhr wie ein gehetztes Tier die acht Kilometer in
den nächsten Ort. Dort lief ich durch die Straßen, in der Hoffnung, ihn
irgendwo zu finden. Und ich fand ihn. Er war allein und wir gingen mit einem
großen Abstand zueinander in Richtung Flusswiesen, um uns dort zu treffen. Was
dann kam, war für mich wie ein schlechter Traum. Wir umarmten uns, wir küssten
uns. Aber ich spürte sein schlechtes Gewissen. „Ich hab’ doch eine Freundin!“
Er erzählte mir, wie toll es bei den Zeugen Jehova wäre und wie toll seine
Freundin sei. Hätte sie in diesem Moment vor mir gestanden, ich hätte sie
umgebracht. Dann wieder ein Kuss, ein gesenkter Blick ein „Leb wohl!“
Ich
kam nicht drüber weg. Ich litt, ich starb. Jeden Tag ein Stückchen mehr. Ich
lebte mein Leben in den folgenden beiden Jahren vor mich hin und es verging
nicht ein einziger Tag, an dem ich nicht an ihn dachte. Ich wollte sterben,
aber ich war zu feige, mein Leben zu beenden.
Milosh
und ich haben bis heute, 2007, über all die Jahre den Kontakt zueinander nicht
aufgegeben. Es gab Jahre, in denen wir nichts voneinander gehört haben, aber irgendwann
meldete sich einer beim anderen wie aus heiterem Himmel wieder. Er lebt
inzwischen mit seiner zweiten Frau in Israel.
Ich
hätte nie gedacht, dass mich das alles noch so berühren kann ... dass ich das
Gefühl habe, noch mal daran zu sterben. Aber jetzt, wo wir darüber reden ...
Auszug aus meinem damaligen Tagebuch:
Am Sonntag hat der Herr S. die
Frau S. erschossen – tot! Ich habe geheult wie ’n Schlosshund. Der Milosh ist
jetzt in K., bis alles vorbei ist (die anderen auch). Er ruft mich fast jeden
Tag an [2] . Jetzt werden wir es sehr schwer
haben. Aber auseinander gehen wollen wir beide nie!
Ps. Der Herr S. ist da, wo er
hingehört: IM KNAST!
Milosh
und ich waren Helden. Helden in einem bösen Spiel, von Erwachsenen inszeniert.
Wir liebten dieses Lied Heroes von David Bowie, es verbindet uns bis heute,
er hat es mir vor einigen Wochen per E-Mail aus Israel geschickt ...
Eva - 2007
Wir
beenden das Gespräch für heute. Das Drama um Milosh ist mir aus vielen
Fragmenten von Danielas Erzählungen bekannt und ich bin mir bis heute nicht
ganz darüber im Klaren, ob es sich bei diesem Zigeunerjungen um eine imaginäre
Liebe handelt oder ob es ihn tatsächlich gegeben hat – im Verlauf dieser
Geschichte und in dieser Funktion. Sooft ich auch vage in den vergangenen
Jahren gebohrt habe, so scheint ihn doch niemand außer sie selbst zu kennen
oder sich daran zu erinnern. Nicht als Person und nicht in Verbindung mit
Daniela. Und auch an den Mord, der ganz in der Nähe begangen worden sein soll,
kann sich niemand erinnern, was aufgrund der ländlichen Lage dieser Region
schon verwunderlich ist. Hier passieren „solche“ Dinge nicht jeden Tag, aber
wenn sie passieren, bleiben sie über Jahrzehnte in den Köpfen der Einwohner
gespeichert.
Einen
Tag nach diesem Gespräch bittet sie mich darum, ihr Heroes erneut zu
besorgen – angeblich hat sie Miloshs E-Mail gelöscht. Mir ist schleierhaft, wie
man mit solch wichtigen Nachrichten so fahrlässig umgehen kann. Andererseits
würde das die Theorie von der Fiktion um diese Teenagerliebe stützen.
Wir
haben zurzeit täglich Kontakt, anders geht es nicht. Mehrere E-Mails sind
begleitet von stundenlangen Telefonaten, in denen es schwerpunktmäßig um Maik
und das Ende einer noch nicht mal begonnenen
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