Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)
legt Ulvis Anwalt Wolfgang Schwemmer lautstark Protest ein. Ulvi habe sein Geständnis längst widerrufen und beteuere seitdem vehement seine Unschuld. Sein Mandant habe es ohnehin nur unter Zwang abgelegt und danach nie mehr wiederholt, schon gar nicht vor einem Richter. Darum sei es als Beweismittel sowieso nicht zulässig. Schwemmer beantragt außerdem, weder die Polizisten als Zeugen zuzulassen noch Kröbers Gutachten in den Prozess einzuführen.
Das Gericht lehnt seinen Antrag nach wenigen Minuten Bedenkzeit ab. Die Polizisten dürfen aussagen, Kröbers Gutachten wird zum zulässigen Beweismittel erklärt – und damit wird auch Ulvis Polizei-Geständnis in den Prozess eingeführt. Mit diesem Schritt nimmt das Gericht bereits eine wichtige Weichenstellung vor: Ohne dieses über Umwege eingeführte Geständnis hätte sich der einzige vermeintliche Beweis gegen Ulvi Kulac nicht halten lassen, die spätere Verurteilung hätte jeder Grundlage entbehrt.
Ulvis Anwälte schäumen vor Wut und werfen den Richtern vor, einen Kotau vor der öffentlichen Meinung zu machen. In den Zeitungen wird Ulvi Kulac zu dieser Zeit längst als »Killer« und »Wieder so ein Schwein« geschmäht. Vorverurteilung, schimpft sein Verteidiger Schwemmer. Die Medien hätten sich auf Ulvi eingeschossen, da er mit seiner ganzen Erscheinung perfekt das Klischee des »Kinderschänders und Mörders« erfülle. »Das Verfahren leidet unter dieser Berichterstattung.«
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In den nächsten Prozesstagen legt sich die Aufregung fürs Erste. Erörtert werden nun die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs in mehreren Fällen. Ulvis zweiter Verteidiger, Wolfgang Bagnoli, räumt zu diesem Komplex ein: »Im Großen und Ganzen ist die Anklageschrift richtig.«
Hinsichtlich des Vorwurfs, Ulvi habe den damals zwölf Jahre alten Sebastian Tröger missbraucht, interessiert sich das Gericht besonders für zwei Begebenheiten. Einmal – wann, ließ sich nicht mehr feststellen – soll Ulvi den Jungen in seine Wohnung gelockt, ihm die Hose heruntergezogen und an ihm herumgespielt haben. Das wäre eine aktive Handlung, möglicherweise sogar verbunden mit Gewalt [Hose runterziehen] gewesen. Ganz anders also als die sonstigen Geschichten über Ulvis sexuelle »Eskapaden«, die man sich so im Ort erzählte. Etwa, dass ihn Kinder immer wieder gehänselt und durch Lichtenberg getrieben hätten mit der Aufforderung, »das Ding doch endlich rauszuholen«.
Ein anderes Mal habe Ulvi den Jungen im Gartengelände der Hermannsruh unterhalb des Lichtenberger Schlossbergs getroffen, sich vor dem Buben entblößt und Sebastian aufgefordert, seinen Penis in den Mund zu nehmen. Der Junge sei aber davongelaufen; Ulvi, übergewichtig und starker Raucher, habe keine Chance gehabt, Sebastian einzuholen, so das Gericht.
Eine interessante Schlussfolgerung – denn hier wird dezidiert auf Ulvis schlechte körperliche Kondition verwiesen, die das Gericht später beim Mordvorwurf nicht erörtern, ja sogar das Gegenteil behaupten sollte: Ulvi soll die fliehende Peggy fast einen Kilometer weit rennend über Stock und Stein verfolgt und dann doch noch erwischt haben.
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Bis zum Jahresende beschäftigt sich der Prozess überwiegend mit Ulvis vermeintlichen sexuellen Übergriffen. Für die Medienvertreter verliert das Verfahren in dieser Zeit an Attraktivität. Es ist nicht das, worüber sie berichten wollen. Es geht nicht um Peggy, sondern um andere Kinder, deren Namen niemand kennt und über die noch nie berichtet worden war. Es gibt nur wenig Spektakuläres zu erzählen, stattdessen kann man Erhellendes über Ulvis geistige Aufnahmefähigkeit erfahren. So erzählt eine Zeugin vor Gericht, dass Ulvi Kinder angeblich mit Süßigkeiten dazu brachte, sich zu entblößen. Die Zeugin sagt wörtlich: »Es darf sich jeder ein Plätzchen nehmen, der wo sich auszieht.« Wie üblich schaut Ulvi dabei still und etwas dumpf in den Saal. Am nächsten Tag berichtet sein Anwalt dem Gericht, Ulvi habe ihn spät am Abend aus der psychiatrischen Klinik angerufen. Er habe die Sache mit den Plätzchen nicht verstanden. Schwemmer erinnert das Gericht an die Begriffsstutzigkeit seines Mandanten. Die Richter versprechen, die Verhandlungen noch langsamer und leichter verständlich zu gestalten.
Nach dem Jahreswechsel gewinnt das Verfahren wieder an Brisanz. Am 14. Januar 2004 – es ist der elfte Verhandlungstag – steht erstmals der Mordvorwurf auf der Tagesordnung.
Zunächst geht es um Ulvis Alibi. Die
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